„Die Regierung kontrolliert nur die Städte“

Die Lage in Afghanistan erinnert ein wenig an die Situation vor dem Abzug der sowjetischen Armee, sagt Ehsan Zahine. Er warnt die Nato-Truppen, die jetzt im Süden des Landes stationiert werden, die alten Warlords zu unterstützen

taz: Herr Zahine, seit Wochen häufen sich die Anschläge auf ausländische Truppen in Afghanistan. Was läuft da schief?

Ehsan Zahine: Die Menschen in Afghanistan haben das Gefühl, dass alles schiefgeht. Die Sicherheitslage verschlechtert sich von Tag zu Tag, und der Frust über die Regierung nimmt zu. Die gewaltsamen Proteste Ende Mai nach dem tödlichen Unfall eines US-Militärkonvois in Kabul haben die fehlende Präsenz der Regierung offenbart. Die Randalierer konnten ungestört durch die Stadt ziehen und alles anzünden. Dabei haben ausländische Staaten wie Deutschland viel Geld investiert, um die Polizei auszustatten und zu schulen, solche gewaltsamen Proteste zu beenden. Aber davon war nichts zu merken.

Woran liegt das?

Das Problem ist, dass jetzt alle die alten Warlords, die Führer der Nordallianz sowie korrupte Kommandeure, die wir eigentlich loswerden wollten, wieder an der Macht sind. Vor vier Jahren wurde uns von der internationalen Gemeinschaft gesagt: Diese Leute können wir nicht auf einmal entmachten, wir können sie nur langsam marginalisieren. Doch heute sind sie mächtiger denn je, und wir haben eine Regierung, die sich aus solchen Schurken zusammensetzt. Sie wird deshalb in vielen Gebieten heute mit Machtmissbrauch, Unrecht und Korruption identifiziert. Zudem ist der Wirtschaftsboom, der bis zum vergangenen Jahr anhielt, verflogen, und im Norden kommt in diesem Jahr eine schwere Dürre hinzu. All dies trägt zum Frust bei.

Nützt das den Taliban?

Schon damals haben die Taliban weite Gebiete ohne Kampf übernehmen können, weil die Menschen von der Herrschaft der Mudschaheddin völlig frustriert waren und die Taliban eine Form von Sicherheit brachten. Die damaligen Kommandeure, die von den Taliban vertrieben wurden, sind heute wieder unter Karsai in Amt und Würden.

Sind die Taliban deshalb wieder stärker geworden?

Ich bin mir nicht sicher, ob die Taliban überhaupt noch als Bewegung existieren. Sie sind zum Teil auch ein Medienphänomen, und es ist unklar, wer sie wirklich sind. Jeder, der gegen die Regierung ist, wird doch als Taliban gebrandmarkt. Dabei sind das meist Gemeinschaften, die schon zu Zeiten der sowjetischen Besatzung oder der Taliban existiert haben, die bewaffnet sind und heute meist vom Opiumanbau leben. Sie kontrollieren ihr eigenes Gebiet, und jeder, der dorthin kommt, muss sich mit ihnen auseinandersetzen.

Doch warum gibt es heute wieder mehr Taliban? Zum einen führt der wachsende Frust dazu, dass sich immer mehr Menschen gegen die Regierung wenden. Zudem gibt es Versuche, die Regierung zu destabilisieren, die von Pakistan aus unterstützt werden.

Wer steckt dahinter?

Die Logistik kommt aus Pakistan, doch woher das Geld kommt, ist nicht klar, schließlich ist Pakistan nicht besonders reich. Das Geld kann aus dem Drogenanbau stammen, aus dem Iran oder sonst woher. Aber klar ist, dass es in den letzten sechs Monaten viele Zwischenfälle gegeben hat. Die internationalen Truppen haben keinen Konvoi mehr aus dem Flughafen von Kandahar bekommen, der nicht angegriffen wurde. Manchmal wirkt es schon wieder so wie zu der Zeit, als die Russen Afghanistan verlassen haben. Die Regierung kontrolliert nur noch die Städte, der Rest des Landes ist in der Hand der Opposition.

Was haben die Milliarden an internationaler Hilfe in den paschtunischen Stammesgebieten im Süden und Osten Afghanistans bewirkt?

Das Geld hat diese Gebiete längst nicht in dem Maße erreicht wie den Norden. Ein Großteil der Milliarden, die für Afghanistan zugesagt wurden, werden zunächst von der internationalen Gemeinschaft selbst verwendet. Zudem werden der Sicherheitsprobleme wegen viele Stammesgebiete als Al-Qaida-Regionen abgestempelt.

Wir besitzen in Afghanistan keine verlässliche Datenbasis, aufgrund derer sich gut planen ließe. Viele wichtige Entscheidungen werden außerhalb des Landes gefällt und haben mit der Situation vor Ort wenig zu tun. So gab es in den letzten Jahren ein Programm zum Bau von Schulen. Heute sind auf dem Land viele neue, weiße und schöne Schulgebäude zu sehen, aber es gibt für sie gar keine Lehrer oder keine Heizungen im Winter, weil die lokale Bevölkerung beim Bau nicht mit einbezogen wurde.

Ein Vorzeigeprojekt war der Bau der Straße zwischen Kabul und Kandahar, in Kabul war es die Straße vom Flughafen zur US-Botschaft. Doch die internationalen Bauprojekte sind längst nicht so bedeutend, wie sie sein könnten. Heute sorgt sich die Bevölkerung mehr um andere Fragen, wie zum Beispiel die anhaltend niedrigen Löhne der Staatsangestellten: Ein Lehrer bekommt umgerechnet 50 bis 60 Dollar, ein Kilo Fleisch kostet aber schon 4 Dollar. So hat sich das Leben der Menschen nicht wirklich verbessert.

Die Nato expandiert jetzt in den Süden Afghanistans, bald soll sie auch noch im Osten für Sicherheit sorgen. Was halten Sie davon?

Ich verstehe nicht, warum die niederländischen und britischen Soldaten jetzt ausgerechnet in der Heimatprovinz der Taliban und in der größten Opiumprovinz mit ihrem Einsatz beginnen. Ich fürchte, dass die Nato-Kräfte jetzt all jene Gebiete übernehmen sollen, in denen die US-Armee versagt hat. In den letzten vier Jahren mussten wir uns mit den lokalen Warlords rumschlagen, die von den Amerikanern nicht angerührt wurden. Diese sind heute aber der Hauptgrund für all unsere Probleme.

Schützt die Nato also die falschen Leute?

Ich hoffe nicht. Sie wird in einigen Gebieten sicher mit den Taliban konfrontiert sein. In anderen sollte sie sich aber auch die Vertreter der Regierung näher anschauen. Denn wenn diese Warlords nicht zufrieden sind, werden sie Ärger bereiten, wo sie nur können.

Was erhoffen Sie sich von der Ausdehnung der Nato-geführten Isaf-Truppe in den Osten des Landes, die bis zum Jahresende geplant ist?

Im Osten sind die Stämme viel homogener, dort gibt es klare Ansprechpartner. Die Stammesführer haben ihr jeweiliges Gebiet unter Kontrolle, was es den Taliban schwer macht, Fuß zu fassen. Die Nato muss also den Kontrakt zu den Stammesführern suchen und sie in ihre Politik mit einbeziehen. Dabei kann ihr die Stammespolizei, die dem ganzen Stamm gegenüber rechenschaftspflichtig ist und nicht nur einem Warlord und seinen Milizen, helfen. Die Stammesältesten sagen immer wieder, dass sie mit ihrer Stammespolizei die Grenzen ihres Gebietes kontrollieren können.

Wie können die Stämme zur Zusammenarbeit gewonnen werden?

Es muss ihnen etwas geboten werden. Sie wollen einen Entwicklungsplan sehen, aus dem hervorgeht, was für ihre Wasser- oder Elektrizitätsversorgung getan wird, welche Schulen und Straßen gebaut werden sollen. Das kann aber nur die Regierung. Aus diesem Grund muss Druck auf die Regierung von Karsai gemacht werden, die keine Politik für die Stammesgebiete hat und dort keinen Wiederaufbau durchführt. Sie bietet nur Worte, aber keine Taten. Das ist das Problem.

INTERVIEW: SVEN HANSEN