„Wir müssen weiter diskutieren“

Der Orthografiexperte Rolf Landolt hält die Rechtschreibreform für unfertig

taz: Herr Landolt, ist die „Reform der Rechtschreibreform“ ein Rückschritt oder eine weitere Etappe in einem Reformprozess?

Rolf Landolt: Es ist noch ein Kompromiss innerhalb der vielen geschlossenen Kompromisse. Wir müssen die Diskussion unbedingt fortführen.

Wie finden Sie, dass der Duden nun empfiehlt, „sitzen-bleiben“ je nach Sinn getrennt oder zusammenzuschreiben?

Es ist ein Rückschritt – aus einer präwissenschaftlichen, laienhaften Auffassung heraus ist man wieder dazu gekommen, Bedeutungen stärker zu differenzieren. Das ist der Rechtschreibung nicht angemessen.

Aber erscheint es Ihnen nicht sinnvoll, zwischen „auf dem Stuhl sitzen bleiben“ und dem Wiederholen einer Schulklasse zu unterscheiden?

Die Bedeutung kommt von der Sprache her. Wenn man es nicht schafft, mit der Sprache die Bedeutungen auszudrücken, dann ist die Rechtschreibung auch nicht das richtig Mittel.

Aber wenn die Bedeutung am Schriftbild zu erkennen ist, vereinfacht das doch das Lesen.

Nein. Es ist eine Verkomplizierung. Beispiel: „das schwarze Brett“. Für jedermann ist es im Kontext klar, ob es um ein schwarzes Stück Holz oder ein Anschlagbrett geht. Aber beim Schreiben muss ich überlegen, ob es noch weitere Bedeutungen geben könnte, an die ich im Moment gar nicht denke, und ob in diesem Fall die Rechtschreibung zufällig einen Unterschied macht.

Besonders bei den Empfehlungen zur Zusammen- und Getrenntschreibung ist der Duden nicht konsequent. So steht „frei machen“ neben „freikratzen“.

Bei der Getrennt- und Zusammenschreibung kommt man nie zu einer logischen und einfachen Lösung. Irgendwo wird es immer Grenzfälle geben. Da würde ich nicht darauf herumreiten; das ist weder sprachgeschichtlich noch für das Verständnis wichtig.

Verwirrend wird aber für die Schüler das Nebeneinander unterschiedlicher Schreibungen in älteren und neuen Schulbüchern sein.

Hätte man auf die Wiedervereinigung verzichten sollen, weil die Atlanten nicht mehr stimmen? Dann führen wir doch gleich die Substantivkleinschreibung ein, damit das größte Wörterbuch der deutschen Sprache, das Grimmsche, wieder stimmt und das Chaos kleiner wird.

Was empfehlen Sie Lehrern?

Die haben sich nach der Schulorthografie zu richten. Aber sie können gleichzeitig das Problembewusstsein bei der Rechtschreibung vermitteln – sodass künftig die Leute nicht gleich einen Schreck bekommen, wenn sie hören, dass man die Rechtschreibung auch ändern könnte.

Angesichts all der möglichen Varianten: Soll jetzt jeder so schreiben, wie er will?

Das steht ja ohnehin außer Frage. Es gibt nur ungefähr fünf Prozent der Bevölkerung, die sich an die Rechtschreibreform halten müssen – jene Menschen an den Schulen und in den Behörden. Der Rest kann schreiben, wie er will. Aber wenn es eine gute Regelung gibt, dann erhöht das auch die Chance, dass sich alle daran halten.

An welchem Punkt auf dem Weg zu einer optimalen Rechtschreibung sind wir angelangt?

1996 waren wir weiter als jetzt. Aber das Fernziel ist eine weiter gehende Rückkehr zum Prinzip der Buchstabenschrift. Wie schon Friedrich Gottlieb Klopstock anno 1778 feststellte: „Der Zweck der Rechtschreibung ist: Das gehörte der guten Aussprache nach der Regel der Sparsamkeit zu schreiben.“ Zum Beispiel könnte man das „sch“ nur mit einem Zeichen schreiben. In naher Zukunft sollte die Kleinschreibung der Substantive eingeführt werden.

Glauben Sie, dass es nach zehn Jahren Diskussionen um die Rechtschreibung überhaupt noch den Willen in der Bevölkerung für weitere Reformen gibt?

Vielleicht eben gerade, weil man gesehen hat, dass zu viele Kompromisse auch nicht gut sind. Da könnte sich der Gedanke durchsetzen, dass man es beim nächsten Mal richtig macht. Nach dem Motto: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.

Herrscht ab dem 1. August endlich Sprachfrieden?

Sprachfrieden? Sprachfrieden gibt es zum Beispiel beim Manx-Gälischen, wo es keinen Sprecher mehr gibt. Unser Ziel kann nicht Frieden sein, sondern Leben und Entwicklung. INTERVIEW: SAT