Die Kunst der Perestroika

KUNST Statt für den Sozialistischen Realismus hat sie sich mehr für die russischen Nonkonformisten interessiert. Seit jetzt 25 Jahren zeigt die Galeristin Marina Sandmann in Deutschland zeitgenössische Kunst aus Russland

■ Die Galerie Sandmann fühlt sich besonders der sogenannten „Zweiten Avantgarde“ verpflichtet, also der inoffiziellen und auch dissidenten russischen Kunst seit dem Ende der 50er Jahre.

■ Zum 25-jährigen Jubiläum der ersten Ausstellung „Labyrinth – Neue Kunst aus Moskau“ – präsentiert noch im Schloss Wotersen bei Hamburg – ist in der Galerie bis 22. März die Gruppenausstellung „Künstler der Perestroika“ zu sehen, zum Teil mit Arbeiten aus der damaligen Schau. Taubenstr. 20–22, Mi–Fr 14–19 Uhr, Sa 12–17 Uhr.

VON LJUBA NAMINOVA

Eigentlich hatte Marina Sandmann nie vor, eine Galerie zu eröffnen. „Ich hatte eine Aversion gegen Verkäufer“, erzählt die 64-jährige Galeristin und schürzt dabei ihre nachgezogenen Lippen. Heute ist sie Inhaberin der Galerie Art Sandmann am Gendarmenmarkt.

Die gebürtige Moskauerin studierte zunächst Sprachen, Englisch und Deutsch und promovierte im Fach Geschichte. Für Kunst interessierte sie sich aber schon von klein auf. Bereits ihre Eltern waren Hobby-Kunstsammler. In Moskau wuchs sie in dem Gebäude auf, in dem sich auch die Ausstellungsräume des offiziellen Moskauer Kunstverbands befanden. Die dort ausgestellte Kunst im Stile des Sozialistischen Realismus ließ sie aber völlig kalt. In drei Jahrzehnten besuchte sie die dortigen Ausstellungen ganze zwei Mal.

Ein schwarzes Zahnrad auf Zeitungspapier der sowjetischen Prawda. Tränende Augen überall. Das Werk des Künstlers Dmitri Prigov aus dem Jahr 1991, gerade ist es in der aktuellen Ausstellung in der Galerie zu sehen, bildet das Rad der Geschichte ab. Der Lauf der historischen Ereignisse spielte auch in Marina Sandmanns Leben eine wichtige Rolle.

Anfang der achtziger Jahre lernt sie in Moskau ihren späteren Ehemann Fritz Sandmann kennen. Er ist Leiter einer Wirtschaftsdelegation, sie seine Dolmetscherin. Schnell wird den beiden bewusst, dass sie zusammen sein wollen. Anderthalb Jahre schaffen sie es, ihren Briefwechsel vor dem KGB zu verheimlichen. Eine Ehe zwischen einem Westdeutschen und einer sowjetischen Frau ist nicht gern gesehen. Um aber heiraten zu können, müssen sie ihre Liebe vor dem KGB öffentlich machen. Die Konsequenzen sind hart: Marina verliert ihre Arbeit, Fritz erhält für zweieinhalb Jahre Einreiseverbot in die Sowjetunion. In der Zeit ihrer Arbeitslosigkeit entstehen viele Kontakte zu Künstlern des Moskauer Untergrunds. 1986, nach vier Jahren Warten, darf Marina Sandmann ausreisen.

Euphorie der Perestroika

1988 besucht das Ehepaar erstmals wieder die russische Hauptstadt. Im Palast der Jugend besuchen sie eine Ausstellung mit Werken junger Künstler der Perestroika. Fritz Sandmann erinnert sich noch gut an die damalige Euphorie, die seine Frau während der Ausstellung empfand. „Marina bekam ganz rote Ohren vor Aufregung und meinte, das müsse man doch auch in Deutschland zeigen können.“

War die öffentliche Ausstellung nichtstaatlicher Kunst 1986 noch undenkbar gewesen, öffnete sich das Land nun allmählich unter Michail Gorbatschow. „Als ich ein Gemälde sah mit der Aufschrift ‚Schweinehunde, in was habt ihr das Land verwandelt?‘, da verstand ich, etwas verändert sich grundsätzlich“, sagt sie. Ein knappes Jahr später können Marina Sandmann und ihr Ehemann die Ausstellung „Labyrinth – Neue Kunst aus Moskau“ auf Schloss Wotersen in der Nähe von Hamburg eröffnen. Zum Zeitpunkt der Ausstellung ist das Schloss eine Baustelle, sinnbildlich für die marode Sowjetunion.

„Die Künstler dieser Zeit hatten ein Gespür für die Bedeutung der Perestroika in der russischen Gesellschaft“

MARINA SANDMANN, GALERISTIN

Weitere Ausstellungen folgen, zuerst durch Deutschland wandernd. 1997 findet die Galerie Heimat in Berlin, erst im Russischen Haus, heute am Gendarmenmarkt. Sandmann hat sich auf die Kunst der russischen Nonkonformisten spezialisiert. „Man sollte sich für die Leute engagieren, für die sich der Staat nicht engagiert“, findet sie und ihre braunen Augen blitzen dabei auf. Ihre Galerie bezeichnet sie selbst als Programmgalerie. Die Werke, die sie ausstellt, zählt sie in Anlehnung an die „Russische Avantgarde“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur sogenannten Zweiten Avantgarde. Diese bezeichnet die Periode zwischen der Entstalinisierung unter Chruschtschow ab 1956 bis zum Ende der Perestroika 1993. „Die Künstler dieser Zeit hatten ein Gespür für die Bedeutung der Perestroika in der russischen Gesellschaft. Alle Werke dieser Zeit thematisieren den Umbruch“, erzählt sie und rollt dabei jedes r sehr gründlich.

Dennoch bezeichnet Sandmann die Künstler dieser Zeit nicht als politisch. „Es gab zwar verschiedene Gruppierungen und es wurden auch Manifeste geschrieben, diese hatten aber keine starken politischen Aussagen.“ Mit den meisten Künstlern dieser Ära, von denen mittlerweile viele in bekannten russischen Museen wie der Tretjakow-Galerie ausgestellt werden, ist Marina Sandmann befreundet. „Die meisten Museen haben die Bedeutung dieses Zeitabschnitts aber noch nicht ganz verstanden“, sagt sie, „die Werke werden nirgendwo systematisch gesammelt.“

Der Künstler Evgenij Wachtangow hat den Umbruch in seinem Gemälde „Ich“ von 1985 besonders deutlich dargestellt. Auch dieses Bild ist aktuell in der Galerie zu sehen. Wachtangow porträtierte sich mit einem Doppelgänger, im Zentrum des Gemäldes steht auf Russisch „ich“ geschrieben. Es ist die Darstellung des Übergangs vom Kollektiv zum Individuum.