ROBERT MISIK ÜBER DIE MEDIALE IKONOGRAFIE DES AFGHANISTANKRIEGES
: Das Mädchen ohne Nase

Das „Time“-Titelbild ist auf üble Weise manipulativ. Dieser Krieg der Bilder macht uns nicht klüger

Es ist eines jener Titelblätter, die man gemeinhin einen „Eye-Catcher“ nennt. Das Cover des aktuellen Time-Magazins zeigt eine junge, hübsche Frau – mit abgeschnittener Nase. Daneben prangt die Schlagzeile: What Happens if We Leave Afghanistan. Ohne Fragezeichen, wohlgemerkt. Die Botschaft lautet ziemlich unverschlüsselt: DAS also passiert, wenn wir aus Afghanistan abziehen.

Das ist ein ziemlich absurder Kommentar zu dem, was sich da in Afghanistan vor etwa einem Jahr ereignet hat. Dem 18-jährigen Mädchen namens Aisha wurden damals von der Familie ihres Mannes – einem Anhänger der Taliban – Nase und Ohren abgeschnitten. Sie sahen dies als „Strafe“ dafür, dass sie der Tortur, die ihre erzwungene Ehe mit ihm für sie darstellte, zu entfliehen versucht hatte. Insofern ließe sich natürlich nüchtern feststellen: Das passiert, auch wenn wir NICHT aus Afghanistan abziehen. Solche schrecklichen Dinge passieren dort, trotz der nunmehr neun Jahre währenden westlichen Besetzung.

Das Time-Titelblatt ist verstörend – nicht nur des erschreckenden Bildes, sondern der kontroversen Botschaften wegen, die es zeitgleich aussendet. Einerseits rüttelt es den Betrachter wach und wirkt damit in gewissem Sinne aufklärend: In der Debatte, ob die westlichen Truppen aus dem Land abziehen sollen, geht es schließlich nicht nur um die Frage, ob man einen Deal mit den Taliban schließen kann, ob dieser Krieg überhaupt noch zu gewinnen ist, ob die US-geführten Truppen hier in einen schmutzigen Krieg involviert wurden und dass es längst unmöglich geworden ist, die einst hoch gesteckten und hehren Ziele – Stabilität und Menschenrechte – zu garantieren. Es geht vielmehr auch um konkrete Menschen, die konkret leiden – und die noch mehr leiden könnten, wenn die Taliban wieder die vollständige Kontrolle über das Land erlangen würden. Und das sollte man bitte auch nicht vergessen über all den „realpolitischen“ Diskussionen.

Zur gleichen Zeit aber steht dieses Titelblatt für Kriegspropaganda der übelsten Sorte. Mit einem Bild, das direkt ins Herz des Betrachters zielt, wird die Botschaft insinuiert: Wir müssen die militärische Besetzung aufrechterhalten – sonst lassen wir zu, dass Schreckliches passiert. Es ist, kurzum, auf schlimme Weise manipulativ. Man könnte dem schließlich problemlos mit ebenso zwingender Bildsprache andere Botschaften entgegenstellen: etwa Bilder von verkohlten Zivilisten, von Opfern westlicher Bombenangriffe, und dem Kommentar: Das passiert, wenn wir weiterhin in Afghanistan Krieg führen.

Macht uns ein solcher Krieg der Bilder irgendwie klüger? Ganz gewiss nicht. Die Fragen, die gestellt werden müssen, sind letztendlich andere: Haben die westliche Intervention und die Besetzung die Lage der normalen Bevölkerung und insbesondere der Frauen – alles in allem gesehen – verbessert? Eher nicht. War der „Menschenrechtsbellizismus“ ein Erfolg? Kaum. War das Scheitern zwangsläufig? Darüber kann man streiten, aber es wurde durch massive Fehler – die sträfliche Vernachlässigung des Wiederaufbaus und der Schaffung funktionierender Institutionen – begünstigt. Sollen die westlichen Truppen deshalb abziehen? Irgendwann wird das geschehen müssen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Lage bis dahin bessern wird, ist sehr gering.

An diesen bitteren Wahrheiten ändern auch Titelblätter im Geiste raffinierter PR-Emotionalisierung nichts. Es gibt einen innerwestlichen Krieg der Emotionalisierung, und letztendlich war auch die Veröffentlichung der Wikileaks-Dokumente ein Teil davon. Denn diese viele tausend Seiten dicke Konvolut sollte doch subkutan, jedenfalls nach dem Willen des Wikileaks-Chefs Julian Assenge, vor allem eine simple Botschaft transportieren: Nichts wie raus da. Das Bild der 18-jährigen Aishe ist gewissermaßen eine mediale Antwort darauf.

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