„Glaubt ihr an diese Texte?“

Während in Israel Krieg herrscht, trifft sich eine Gruppe israelischer und palästinensischer LehrerInnen in Braunschweig, um über ein gemeinsames Schulbuch zu beraten. Sie wollen „die Geschichte abrüsten“. Gegen die Kritik ihrer Landsleute und gegen den Widerstand der israelischen Regierung

„Es ist, als öffnetet ihr die Tür. Ihr guckt einfach mal, was draußen ist“, sagt die palästinensische Lehrerin Rula Musleh

von Friederike Gräff

„Ich bin sehr angespannt in diesen Tagen“, sagt Dan Bar On. „Es sind sieben neue Palästinenser hier und fünf Israelis. Es gibt viel explosives Material in ihnen – und wenn sie explodierten, könnte ich sie nicht einmal dafür kritisieren“. Aber es wird niemand laut: Nicht bei der Diskussion über das Lehrerhandbuch, nicht beim Gespräch über die Einführung des neues Schulbuchs. Und wüsste man nicht, dass hier Menschen zusammensitzen, deren Völker seit Jahrzehnten in Krieg, Terror und gescheiterten Friedensabkommen verhakt sind, dann sähe man nur dies: 45 Leute mit Block oder Labtop in einem Braunschweiger Seminarraum, Frauen mit und ohne Kopftuch, Männer in Jeans oder Stoffhose. Ein internationales Seminar wie viele andere, bei dem sich einige immer wieder zur Wort melden und andere gar nicht und immer wieder die Bitte zu hören ist, lauter zu sprechen. „Das ist doch kein Liebesgespräch“, murrt einer der internationalen Beobachter. Das ist es in der Tat nicht.

Es ist eine Arbeitsgruppe, die ein gemeinsames Schulbuch für palästinensische und israelische Schulkinder entwickeln will. Ein Schulbuch, das in der Gewissheit, dass man sich derzeit nicht auf eine gemeinsame Geschichtsschreibung verständigen kann, immerhin eine palästinensische und eine israelische Version nebeneinander stellt. Das klingt, wie alle guten Ideen, erstaunlich nahe liegend. „Es ist die Entwaffnung der Geschichte“, sagt der palästinensische Erziehungswissenschaftler Sami Adwan, der gemeinsam mit dem israelischen Psychologen Dan Bar On PRIME, das „Peace Research Institute in the Middle East“ leitet. Unter dessen Dach haben sie 2002 das Projekt „Learning each other‘s historical narrative“, zu deutsch „Die Geschichte des anderen kennenlernen“, initiiert.

Sieben israelische GeschichtslehrerInnen und sieben palästinensische KollegInnen sowie sechs internationale Beobachter treffen sich seitdem, um ihre Geschichte für die Schüler aufzuschreiben. Ein Buch, bei dem sie beide Varianten vor den Schülern vertreten können müssen.

Sie erleben eine private Variante dieses Spagats bei jedem ihrer Treffen, wenn sie zuerst über ihre persönlichen Erfahrungen sprechen. Auch an ihrem ersten Tag in Braunschweig haben sie sich in einen Kreis zusammengesetzt und eine Palästinenserin erzählte, dass sie einen Unfall mit einem israelischen Militärfahrzeug hatte und seither humple, weil man sie damals erst viel zu spät in ein Krankenhaus bringen konnte.

Man könnte denken, dass es ein Risiko ist, diese Geschichten zu erzählen, weil sie die Wunden wach rufen, wenn sie denn je vergessen werden. Dass es erst recht das Ungleichgewicht klar macht zwischen den palästinensischen LehrerInnen, die stundenlang an den Grenzkontrollstationen warten, bis sie mit Hilfe des von den israelischen Kollegen ausgestellten Passierscheins durchgelassen werden. Es ist ein schmaler Grad, auf dem die Teilnehmer balancieren, aber für Dan Bar On ist es der einzige Weg, mit den Spannungen umzugehen: „Es lässt die Leute zuhören“.

Bar On schreibt sehr offen darüber, dass es diese Spannungen auch zwischen ihm und Adwan gegeben hat. Dass sie einen Monat lang nicht miteinander sprachen, als Adwan einen Vortrag gehalten hatte, den Bar Ons als verletzend empfand. Dass Adwan Bar Ons Präsenz bei den Interviews als schwierig empfand. Jetzt sieht man in den Pausen, wie sie einander suchen und sich auf die Schultern klopfen, als wollten sie sich vergewissern, dass sie einander haben.

Es war nicht ihr größtes Problem, das Projekt zu finanzieren: Das auswärtige Amt, Stiftungen in den USA und mittlerweile auch die EU gaben Geld. Mit dem Braunschweiger Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung haben sie einen neutralen Ort, um sich zu treffen. Es war ihnen auch möglich, sich auf die Ereignisse zu verständigen, die in dem Text vorkommen sollten: Unter anderem die Balfour Deklaration, mit der den Juden ein eigener Staat versprochen wurde, der Sechs-Tage Krieg und die Intifada. Es wurde komplizierter, als es darum ging, der jeweils anderen Seite den eigenen Text vorzustellen: Die Palästinenser fanden, dass man auf ihrer Seite nicht von Terroristen sprechen könne und die Israelis konnten nicht akzeptieren, dass die Palästinenser von einem Genozid an ihrem Volk sprachen. Aber sie fanden Umschreibungen dafür und aus den „Terroristen“ sind „Selbstmordattentäter“ geworden.

Die Gruppe nahm hin, dass das israelische Erziehungsministerium den Gebrauch des Buches untersagte und dass die palästinensischen Behörden es ignorieren. Sie kam damit zurecht, dass einige der Mitglieder die Spannung nicht ertrugen. „Ein palästinensischer Lehrer erzählte, dass sein Cousin, der blind war, einen Kiosk hatte, von dem er lebte. Als dieser Kiosk von den Israelis zerstört wurde, fragte er: ,Wie soll ich ihm ins Gesicht sehen?‘“, sagt Sami Adwan. „Dabei war er doch blind“, fügt er mit einer Nüchternheit hinzu, die alle Teilnehmer immer wieder zeigen. Und dann gab es den Palästinenser, der bei der Gesprächsrunde sagte: „Ich weiß nicht, wer ich bin. Derjenige, der heute morgen an der Grenze stundenlang stehen gelassen und gedemütigt wurde. Oder der, der hier mit euch spricht“. Beide sind aus dem Projekt ausgeschieden.

Wirklich schwierig wurde es, als die LehrerInnen ihren Schülern das neue Material vorstellten: „Das ist Propaganda“, sagten die israelischen Schüler über die palästinensischen Texte und die palästinensischen Schüler akzeptierten nicht, dass über den israelischen Texten die Flagge Israels abgedruckt war, weil sie sie an die Flagge an den Panzern vor ihren Häusern erinnerte.

Die Schüler fragten die Lehrer: „Glaubt ihr an diese Texte?“ und wenn die Lehrer das verneinten, wollten sie wissen: „Warum sollen wir sie dann lesen?“ Das war der Moment, in dem das Projekt beinahe auseinander gebrochen wäre, denn die Diskussionen, die bis dahin meist sehr pragmatisch gewesen waren, wurden so hitzig wie die Fragen der Schüler. Für einige Fragen fand man Lösungen: Die Fahnen beider Länder wurden aus den Büchern entfernt. Andere soll das Lehrerhandbuch lösen.

Das Handbuch steht heute in Braunschweig auf der Tagesordnung: „Was tue ich, wenn die Schüler sagen: ‚Das ist eine Lüge‘?“, fragt eine palästinensische Lehrerin. Aber sie bekommt keine direkte Antwort. „Es ist immer Aufgabe des Lehrers, seinen jeweils eigenen Weg zu finden“, sagt jemand. „Bedeutet das nicht, zu viel von den Lehrern zu erwarten?“, fragt einer der internationalen Beobachter. „Es ist mehr, als die meisten normalen Lehrer leisten können“, lautet die Antwort. „Was ist der normale Lehrer?“, fragt einer der Lehrer zurück.

Das Handbuch erwartet auf jeden Fall einiges von ihnen. Im Entwurf steht bei den allgemeinen Empfehlungen: „ Sei offen, flexibel, respektiere Unterschiede. Glaub an die Fähigkeiten, Kompetenzen und das Potential deiner Schüler“. Und: „Glaube an dich selbst“. Als die Lehrerin Rula Musleh ihren palästinensischen Schülerinnen das Material gab, begann gerade die zweite Intifada und die Mädchen fragten: „Warum sollten wir das lesen?“ „Weil wir die Ergebnisse für die Universität brauchen“, sagte Rula Musleh. „Ihr tut uns einen Gefallen“. Und: „Es ist, als öffnetet ihr die Tür. Ihr guckt einfach mal, was draußen ist“. Und hinterher? „Es ist noch nicht die Zeit, das zu evaluieren“, sagt Musleh. Nur die anderen haben das getan – und sie als „Normalisiererin“ beschimpft.

Ihr israelischer Kollege Eyal Keren hatte nur drei Unterrichtsstunden, um seinen Schülern das Material zu zeigen. „Sie haben weniger emotional reagiert, als ich dachte“, sagt er. „Aber es war okay“. Natürlich gab es welche, die sagten: „Es ist die Propaganda, die wir von Palästinensern erwartet hätten“. Aber 60 Prozent der Schüler, so schätzt Keren, könnten mit dem Material umgehen. Die Leute von PRIME hantieren nicht mit absoluten Ansprüchen. Vor einiger Zeit, als Bar Ons Sohn zum Militär ging, sagte Sami Adwan zu ihm: „Ich weiß, wie besorgt deine Familie jetzt ist. Und weil wir Freunde geworden sind, bin ich es auch“.