Der „Homo precarius“ lebt mit der Unsicherheit. Aber wie? Heute: Reingard Jäkl, 67, aktive Seniorin
: „Mir war klar, dass ich im Alter keinen opulenten Lebensstil haben werde“

„Über die Rente haben wir doch in den 60er- und 70er-Jahren nicht nachgedacht“, sagt Reingard Jäkl. Manchmal hätten sie und ihre Freunde von der Roten Hilfe, aus der Gewerkschaft oder aus Frauenzusammenhängen sich nur gefragt, was sie wohl im Alter machen würden. Die Antwort hieß damals: „Wir machen dasselbe wie bisher.“ Reingard Jäkl hat inzwischen erfahren, dass das leichter gesagt als getan ist.

Heute lebt die 67-jährige Historikerin, die ihr Studium nicht abschloss und sich mit Jobs in Rechtsanwaltskanzleien, mit Artikeln in Zeitschriften oder mit ABM-Stellen in Kultureinrichtungen ihren Lebensunterhalt verdiente, von einem Mix aus minimaler Rente, die mit der Grundsicherung auf Sozialhilfeniveau aufgestockt wird. Dazu hat sie noch die kleine Aufwandsentschädigung zur Verfügung, die sie für ihre ehrenamtliche Arbeit als Bezirksverordnete der Grünen in Tempelhof-Schöneberg bekommt. Jede Sitzung, an der die Bezirksverordnete teilnimmt, wird mit 20 Euro honoriert.

Für Jäkl stimmt demnach auf eine Art, dass sie heute das macht, was sie auch früher gemacht hat: sich engagieren und die Welt verändern – wenn auch nur im Kleinen.

Jäkl hat eine Biografie, wie sie typisch ist für ihre Aufbruchsgeneration. Sie wurde 1939 in Nordmähren in der Tschechischen Republik geboren. Ihre Eltern waren Mitläufer der Nazis. 1946 wurde die Mutter mit drei Kindern in Viehwaggons und mit Handgepäck ausgewiesen. Sie strandeten in einem bayrischen Dorf bei einer „tollen Bauernfamilie, die aktiv christliche Nächstenliebe lebte“, erzählt sie.

Wie sie dabei schon früh zu einer Gerechtigkeitssucherin wurde, kann sie nicht genau sagen. Sie vermutet, dass es etwas damit zu tun hatte, einen Gegenentwurf zur Elterngeneration, die in die NS-Zeit verstrickt war, zu finden. Bei ihrer Suche stieß sie auf die linken Kreise in München. „Dort verkehrten damals tolle Leute. Witwen von Hingerichteten, Spanienkämpfer, ehemalige Widerständler.“ Man hatte hohe Ideale. Es ging um eine bessere Welt, nicht um ein besseres Auskommen. „Man hatte nicht sich, sondern die Gemeinschaft im Blick. Das hat sich verändert.“ Prekär sei damals die Gesellschaft gewesen und nicht das eigene Schicksal.

Sie selbst spürt die Veränderung, die Individualisierung von heute am meisten in der Abwertung, die ältere Leute in der Gesellschaft erfahren. „Man meint, deren Erfahrungen nicht zu brauchen.“ Wie soll sie, Jäkl, sich da in Zukunft über Wasser halten? Denn Alte, die mit Jungen um Jobs oder Aufträge konkurrieren, hätten das Nachsehen. Kommt hinzu, dass im kulturellen Bereich, auf dem sie sich am besten auskennt, auch kaum mehr Honorare bezahlt werden. Praktikanten machen es umsonst.

„Ich bin mein Leben lang mit wenig Geld ausgekommen“, sagt Jäkl. „Mir war klar, dass ich im Alter keinen opulenten Lebensstil haben werde.“ Dass aber Unsicherheit mit zunehmendem Alter so schwierig zu meistern sein würde, das hatte sie sich nicht gedacht. Waltraud Schwab