Meine Klosterinsel

Nebenstelle (12): Vom Leben und Schreiben in der norddeutschen Provinz. In Versfüßen vermisst die Lyrikerin Doris Runge immer wieder ihr holsteinisches Eiland. Zu ihr spricht die Stille alter Gemäuer – es sei denn, die Feuerwehrkapelle bläst gerade unerbittlich ihr Blech

Auch hier flattern mir rabenschwarze Nachrichten ins Haus … bin ich mit der Außenwelt verdrahtet, vernetzt, verbunden

Wo man bei Cechov in der Hoffnung auf das wirkliche Leben nach Moskau rief, rufen und ziehen deutsche SchriftstellerInnen heutzutage in lemminghafter Einhelligkeit nach Berlin. Hieß es nicht einmal: Die Erneuerung kommt von den Rändern? Für die taz nord schreiben SchriftstellerInnen aus der norddeutschen Provinz, was das Wohnen fernab der Metropolen für ihr Schreiben und Leben bedeutet.

Im Sommer wachsen mir Rosen ins Gedicht, im Winter Eisblumen. Überhaupt, alles was wächst, wuchert, umarmt und verstrickt, alles, was Schatten wirft, findet sich wieder auf meinem weißen Papier: die grünen Hochhäuser mit ausladenden windbewegten Terrassen, Raubvögel, Tauben und Dohlen unter Firsten und gotischen Bögen. Immer wieder vermesse ich mein Eiland auf Versfüßen. Es gilt, das Vertraute mit fremdem Blick zu erforschen: das Kommen und Gehen – den Stoffwechsel der Dinge. Und immer wieder führen meine Zeilen zum Meer. Als Küstenbewohnerin bin ich mit dem alten Strandläufer per Du. Schließlich ist er die Muse dieses Landstriches, bringt die schwere Zunge zwischen den Meeren zum Singen. Im Frühjahr mit leichten Fingerübungen, schneller Wechsel von Licht und Schatten, im Sommer mit hochfliegenden Tönen, mit herbstlichen Orgeln fällt er ein, mit gläsernem Stöckchen intoniert er die Stille.

Wenn nicht gerade eine Busladung Touristen das Klostergelände überrennt, oder die Feuerwehrkapelle unerbittlich bläst, dann spricht die Stille zu mir: das alte Gemäuer, der Stein mit schönen Stimmen im gezackten Giebel. Das Käuzchen weckt Nachtgespenster. Die Amsel foppt mich am Morgen, ruft mich ans Telefon. Gleich um die Ecke im Weißdornbusch wohnt ein anderer begabter Sänger, aus der Familie der Würger. Der ausgewiesene Ökonom unterweist mich in Vorratshaltung (Politiker könnten von ihm lernen, wie man Vorsorge trifft – ich meine sparen, bevorraten, nicht aufspießen). Und immer wieder Zwiegespräche mit den verwurzelten Heiligen. In grünen Kutten mit ausgebreiteten Armen versorgen sie heimisches Vogelvolk und Zugereiste. Allemal großherziger als ich, wenn es um die Heerscharen von Urlaubern geht.

Als ich vor dreißig Jahren auf diesem Kloster-Eiland strandete, war das ehemalige Benediktinerkloster ein efeuberankter Torso mit losen Dachpfannen, zerborstenen Scheiben. Eine einsame Majestät, umschlossen von einem grünen Mantel aus Steineichen, Buchen, Linden auf dem Wallgraben, Nussbäume hinterm Refektorium. Auch das seit Jahrzehnten leer stehende, still vor sich hinwitternde Amtsschreiberhaus – moribunder Repräsentant dänischer Herrschaft aus dem 19. Jahrhundert, das mein Domizil wurde – hatte die Natur zurückerobert: Rasen und Kieswege, Ziersträucher erdrosselt, Zäune gelegt, mühelos Mauern überwunden, war mit grüner Schleppe durch schmiedeeiserne Tore geschlüpft und hatte nach den brüchigen Fassaden gegriffen. Damals schien mir die verlassene Klosterinsel Zuflucht, „Valiumgrünzone“, in der ich schlafwandeln und aus der Welt sein konnte. Doch hinterrücks holt sie mich ein mit irdischen Botschaften. Kein Garten ohne legendäre Verführerin. Also flattern mir auch hier die rabenschwarzen Nachrichten über die internationalen Agenturen ins Haus. Und nicht ganz ohne mein Zutun bin ich auch sonst mit der Außenwelt verdrahtet, vernetzt, verbunden … Breitband-Internet, Video-Mitteilungen, SMS, E-Mail. Mit meinen „landflüchtigen“ Kollegen kommuniziere ich nun über Datenautobahnen und lasse die „stadtflüchtigen“ über die Autobahn zu mir kommen.

Zwei Zuwege führen über den Klostergraben … Der eine für den Einfall der Kunstpilger, die in den Sommermonaten das mittlerweile restaurierte Kloster heimsuchen, das jetzt eine Dependance des Landesmuseums ist mit wechselnden Kunstausstellungen im Sommer und Konzerten im Winter. Der andere Weg, eine schmale Holzbrücke führt auf den Totenacker – leichte Übergänge.

Das „Weiße Haus“ ist meine Festung geworden, nachdem wir die heimlichen Bewohner vertrieben – den Marder, als das Dach eingedeckt wurde, die Mäuse, die mein Kater das Fürchten lehrte, die Landstreicher ihr leichtes Gepäck nahmen – und mein Fahrrad.

Nun kommen sie gerne, auch die oben genannten Lemminge aus den so genannten geistigen Zentren, um die Literatur in die Provinz zu tragen, vielleicht, aber auch um an der Inspiration dieses Ortes teilzuhaben. Einige Male im Jahr öffne ich das „Weiße Haus“ der Literatur, lade Kollegen ein und bis zu hundert Freunde und Bekannte erleben „die große Welt“ live, um hinterher nach Hause zu gehen und zu sagen: „Oh, haben wir es hier schön.“

Hier lebe ich nun „Jelängerjelieber“. Auch wenn das heiltätige Wasser aus der Johannesquelle, das die Mönche Gewinn bringend verkauft hatten, versiegt ist, die mehr als achthundert Reliquien, die das Vermögen des Ordens beträchtlich vermehrt hatten, verschwunden sind, leider auch die Bibliothek von den dänischen Eroberern nach Kopenhagen entführt wurde – und wohl wissend, dass das literarische Klima an Wagriens Küste schon immer rauer und ungastlicher war als anderswo. In der Vergangenheit waren die Töchter des Zeus und der Mnemosyne selten zu Gast. Den ostholsteinischen Bauern und Junkern stand der Sinn schon immer nach Jagdhörnern und Halali, nach klingenden Gläsern und klingender Münze, was den Gottesmann Johannes Stricker, erster evangelischer Pastor von Cismar nach der Säkularisation in heiligen Zorn versetzte. 1584 schrieb er seinen „Jedermann“: „der düdesche Schlömer“ in mittel-niederdeutscher Sprache, lange, bevor Hugo von Hofmannsthal seinen „Jedermann“ verfasste. Übrigens – Hofmannsthal ließ sich in einer Franziskanerkutte beerdigen.