IM WARTEZIMMER
: Das Nashorn in sich

Wir kennen das ja alle. Wenn tief drinnen das Nashorn durchknallt

„Jennifer, für mich fühlt sich das immer so an, als würde ich von einem Nashorn gerammt!“

Dank der ganzen Mobiltelefoniererei bekommt man heutzutage wirklich jeden Scheiß aus dem Privatleben anderer Leute mit. Jeder zückt sein Multi-so-und-so-Gerät, gerade wo er will, auf dem Kaufhausklo, im Fahrstuhl, beim Metzger, an der Supermarktkasse und gern auch im ICE und erzählt dabei Sachen, die eigentlich niemanden was angehen. Und meist auch niemand anderes hören will.

Auch Cynthia, die ich in Gedanken so nenne, weil ich mir so eine typische Cynthia vorstelle, tut es. Mitten im Wartezimmer, in dem es gerade eben noch zeitschriftenstill war. Cynthia fühlt sich also, als würde sie von einem Nashorn gerammt. Aha! Man kann sich dazu eine ganze Menge vorstellen – und vermutlich bin ich nicht der Einzige im Raum, dessen Fantasie gerade rauf und runter galoppiert. Ein paar Mal macht Cynthia nur bestätigend „hmh“, ehe sie ein „klar, Jennifer – das hab ich ihm auch gesagt!“ hinterherschiebt.

Mein Nachbar und ich blicken uns fragend an. Um wen es gehen könnte, können wohl die meisten im Raum nicht zweifelsfrei sagen. Ich schwanke zwischen Zahnarzt und Freund. Aber dass die Formulierung eher im übertragenen Sinne zu verstehen ist, scheint auch nicht ganz ausgeschlossen.

Vielleicht beschreibt jenes Rammen, dem Cynthia hin und wieder ausgesetzt ist, ja so was wie einen inneren Seelenzustand. Vielleicht ist Cynthia in einer Selbsthilfegruppe und meint gar das Nashorn in sich selbst?

Wir kennen das ja alle. Wenn tief drinnen das Nashorn durchknallt. Wenn die Flusspferde wieder mal alles platttrampeln. Wenn Fuchs und Hase sich irgendwo in der Herzgegend Gute Nacht sagen.

Ich denke, so in der Art wird das auch bei Cynthia sein. JOCHEN WEEBER