Amerikanische Tragödie

Donald Antrim nimmt in einem autobiografischen Essay Abschied von seiner Mutter

Louanne Antrim war kein angenehmer Mensch. Sie war gehässig, besitzergreifend und paranoid und verbrachte darüber hinaus den größten Teil ihres Erwachsenenlebens damit, sich mit Alkohol und Zigaretten systematisch zugrunde zu richten. Als sie im August des Jahres 2000 in ihrem Haus in North Carolina an Krebs stirbt, reagiert ihr Sohn, der Schriftsteller Donald Antrim, darum auch zunächst mit Erleichterung. „Endlich“, stellt er lakonisch fest. „Ich hatte genug von Louanne Antrim.“

Der Untertitel der deutschen Übersetzung verrät es bereits: Mit „Mutter“ hat Donald Antrim „keinen Roman“ geschrieben, sondern einen langen, autobiografischen Essay. Es ist die Geschichte eines „lebenslangen Verfalls“, und Antrim, der bisher vor allem durch seine zynischen Parodien auf den amerikanischen Alltag bekannt geworden ist, erzählt sie nüchtern, fast distanziert. Da sind die trostlose Kindheit der Mutter in Tennessee und Florida, die Highschoolzeit, in der sie ihren späteren Mann kennen lernte, und der kurze Rausch des „Südstaaten-Intellektualismus“ zu Beginn der Sechzigerjahre, als Louanne und die anderen „frisch verheirateten Kinder“ der alteingesessenen Agrarelite C. G. Jung und Joyce entdeckten, Partys feierten und „in Promotionsprogramme flüchteten“.

Dann holte die Wirklichkeit sie ein. Im Fall von Antrims Familie bedeutete das, dass sich der Vater eine Geliebte nahm und die Mutter neben ihrer Arbeit als Dozentin für Mode und Modegeschichte an der Universität von Miami eine fatale Vorliebe für Bourbon auf Eis entwickelte. Es bedeutete, dass die Eltern sich scheiden ließen und Jahre später wieder heirateten, nur um sich kurz darauf erneut zu trennen, und es bedeutete eine langsame Umwandlung der vaterlosen Restfamilie in eine Notgemeinschaft mit Wagenburgmentalität: „Wir brauchen uns keine Gedanken zu machen, was andere Leute denken“, erklärt die Mutter eines Tages dem Sohn. „Wir passen nirgendwo hin.“

Als Resultat dieser durch Alkohol noch beschleunigten Psychodynamik wird der Sohn in die Vaterrolle gezwungen. Diese spezielle Variante des von der Mutter beherrschten ödipalen Dreiecks ist in der US-Literatur oft beschrieben worden. Tobias Wolffs „This Boy’s Life“, Richard Fords „Wild Life“ oder Rick Moodys „Ein amerikanisches Wochenende“ sind „Klassiker“ dieses Genres, ein jüngeres Beispiel ist Augusten Burroughs schonungsloser autobiografischer Bericht „Krass“. Der 1958 geborene Antrim reiht sich hier nahtlos ein. „Es war meine spezifische und unerfüllbare Aufgabe, genauso wie und zugleich ganz anders als alle anderen Männer zu sein“, schreibt er. „Ich durfte sie nie wegen einer irgendeiner anderen Frau verlassen. Ich durfte sie nie belügen oder täuschen.“ Kein Wunder, dass ihm nach dem Tod seiner Mutter zunächst nur der Sinn danach steht, sich „von dieser Frau zu befreien“ und endlich „anständig zu vögeln“: „Ich war schließlich ihr Mann.“

Antrim schreibt jedoch nicht nur über seine Mutter. Er folgt den Verästelungen seines familiären Stammbaums, erinnert an die „vornübergebeugte, presbyterianische Plackerei“ der Großeltern, die intellektuelle Hilflosigkeit seines Vaters, eines Literaturwissenschaftlers, und das Schicksal seines Lieblingsonkels Eldridge, der von einem liebenswerten Exzentriker zu einem nicht mehr gesellschaftsfähigen Trinker wird. Immer wieder geht es in dieser amerikanischen Mittelklassetragödie um Alkohol, Einsamkeit, Neurosen, um Enttäuschungen und Niederlagen, und doch steht am Ende kein psychologisches „Muster“ oder ein literarischer „Plot“: „Mutter“ ist „kein Roman“, keine Analyse, sondern der Bericht über ein Scheitern. Während Antrim noch nach Erklärungen für den Zerfall der Familie sucht, erkennt er, dass die „Vorstellung von der Persönlichkeitsentwicklung als Prozess des Gewinnens von Einsichten in andere Menschen“ nur eine Illusion ist. Sie führt nicht zur Überwindung von Schmerz und Zorn, sondern allein zu der Erkenntnis, dass das „Martyrium des Verlassenwerdens das Leben selbst ist“.

Vielleicht ist seine Mutter wirklich daran zerbrochen. Sicher ist, dass uns nicht nur zwei Flaschen Bourbon und drei Schachteln Marlboro am Tag von diesem Martyrium befreien, sondern auch die Literatur nicht. Im Gegenteil, sie verlängert es sogar noch in die Ewigkeit hinein. Das ist die bittere Pointe dieses erschreckend klarsichtigen Buches. Im Original heißt es „The Afterlife“, also „Das Nachleben“, und auf der ersten Seite steht dann auch „für meine Mutter“. Ob diese Widmung ein Akt der Versöhnung oder eine Geste der Resignation ist, bleibt bis zum Schluss offen. KOLJA MENSING

Donald Antrim: „Mutter. Kein Roman“. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt, Reinbek 2006, 256 S., 17,90 Euro