Kriminelle Senioren

In Japan steigt der Anteil der über 60-jährigen Straftäter noch schneller als der Anteil der Senioren insgesamt

TOKIO taz ■ In Tokio hat ein 65-Jähriger seine Frau erwürgt, weil sie ihn als Waschlappen verhöhnt hatte. In der Provinz Ibaraki bedrohte ein 70-Jähriger den Verkäufer eines Tankstellenshops mit einer Kettensäge. Er war aufgefordert worden, nicht stundenlang in Zeitschriften zu blättern. 42.000 Täter im Seniorenalter verhaftete Japans Polizei 2005 – sechsmal mehr als noch 1990. Inzwischen ist jeder zehnte Strafgefangene über 60 Jahre alt. Damit hat Japan im internationalen Vergleich eine außerordentlich hohe Alterskriminalität.

Die demografische Entwicklung – Japan altert so schnell wie kaum ein Land auf der Welt – kann die steigende Seniorenkriminalität nicht allein erklären. Die Delinquentenrate wächst schneller, als Japan altert. Experten nennen einerseits ökonomische Gründe: steigende medizinische Kosten und kleine Renten verleiteten ältere Leute zu Diebstahl oder Betrug. Nobuo Masataka, Verhaltensforscher der Universität Kioto, führt das Strafverhalten auf den wackelnden Generationenvertrag zurück. „Das Prinzip, wonach Menschen mit zunehmendem Alter mehr Respekt entgegengebracht wird, funktioniert nicht mehr.“ Manche Senioren fühlten sich nutzlos, vernachlässigt, isoliert.

In ländlichen Regionen fallen zunehmend Großfamilien auseinander, weil die Kinder in die Städte ziehen. Yoji Tsujita, der eine Hotline für Senioren bedient, erzählt von vereinsamten Menschen, denen tagelang niemand zuhört. Rentner, die aus Enttäuschung und Isolation straffällig werden? Die Behörden der Kleinstadt Esashi sehen einen Zusammenhang. „Wir beobachten einen starken Anstieg von Ladendiebstählen durch Senioren“, sagte eine Sozialarbeiterin der Zeitung Yomiuri. „Täter sind zumeist Männer ohne Aufgabe und soziales Netz.“

Laut einer Untersuchung der Chuo-Universität beschränkt sich das Spektrum der Delikte nicht auf Diebstahl und Betrug. SeniorInnen verüben auch vermehrt schwere Gewaltdelikte. So berichteten die Medien von einem 60-Jährigen, der seine Mutter umbrachte. Er fühlte sich überfordert, sie zu pflegen.

Dem Justizministerium genügen die bisherigen Erklärungsversuche der Alterskriminalität nicht. Es gab daher eine Studie in Auftrag. Auch Japans Gefängnisse haben begonnen, sich auf die ältere Klientel einzustellen. Wer das Pensionsalter von 60 Jahren überschritten hat, muss im Strafvollzug weniger lang arbeiten. Auch werden den grauhaarigen Tätern leichtere Arbeiten zugeteilt. Hinzu kommen bauliche Maßnahmen: Waschräume bekommen zusätzliche Haltestangen, in einzelnen Anstalten sind rollstuhlgeeignete Abteilungen geplant. Ein Justizbeamter, der nicht genannt werden will, meint aber: „Wir sollten verhindern, dass Gefängnisse zu Altersheimen umfunktioniert werden müssen.“ MARCO KAUFFMANN