Hunger, Kälte und Luftangriffe

GEDENKEN Vor 70 Jahren wurde Leningrad von der deutschen Blockade befreit

BERLIN taz | „Wenn der Frühling kam, aßen die Hungernden das Gras in den Parks, bis sie völlig kahl waren“, erzählt die Petersburgerin Beatrice Gordina-Lieth. Die 82-Jährige überlebte als Kind die Leningrader Blockade. Zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Tante erlebte sie 872 Tage voller Hunger, Kälte und deutscher Luftangriffe.

Auf Hitlers Befehl wird Leningrad am 8. September 1941 mit Unterstützung finnischer Truppen eingekesselt. Sein Ziel ist es die Stadt einzunehmen, indem man sie „aushungern“ lässt. Leningrad ist auf solch einen Angriff nicht vorbereitet, die Lebensmittelvorräte der Stadt sind schnell aufgebraucht. Einen Monat nach Beginn der Belagerung kommt die große Hungersnot. Nahrungsmittel erhält man nur noch über Lebensmittelkarten. Anfangs erhalten Arbeiter noch 400 Gramm Brot täglich, Angestellte und Kinder 300, Erwerbslose 200 Gramm. Mit der Zeit werden die Rationen aber immer knapper. Hunger und Kälte führen zum Massensterben. Die einzige Verbindung zur Außenwelt stellt die „Straße des Lebens“, eine Eisstraße über den Ladogasee, dar. Unter Beschuss der deutschen Wehrmacht finden regelmäßig Lebensmitteltransporte über den vereisten See statt. Doch es reicht nicht für alle.

Bald essen die Hungernden alles, was sie auftreiben können. Haustiere werden geschlachtet, Straßenhunde eingefangen, Lederstiefel gekocht und Tapetenkleister wird getrunken. Der Hunger führt zu Raubüberfällen und Mord. Offizielle Zahlen sprechen von 2.000 Kannibalismusfällen während der Blockade, die Dunkelziffer liegt wohl höher.

In der Literatur wird oft behauptet, die Stadt sei während der Belagerung frei von Ratten gewesen. Beatrice Gordina-Lieth erinnert sich allerdings noch gut an die schwarzen Horden, dicker als ausgewachsene Katzen, die die Stadt auf der Suche nach Futter unsicher machten. „Sie waren sehr gefährlich und konnten Säuglinge im Schlaf fressen. Ich hatte immer Angst vor ihnen.“

Um sich von der Hungersnot abzulenken, gehen viele Leningrader weiterhin ihrer Arbeit nach. Sie unterrichten in Schulen und Universitäten, liefern die Post aus und arbeiten in Fabriken. Auch das kulturelle Leben bleibt aktiv. Der Komponist Dmitrij Schostakowitsch, der anfangs mit seiner Familie eingekesselt, einen Monat später aber evakuiert wird, komponiert im Exil seine „Leningrad-Sinfonie“. Sie wird auf seinen Wunsch im August 1942 in Leningrad aufgeführt. Die Partitur wurde zuvor mit einem speziellen Flugtransport eingeflogen.

Die meisten Hungernden sterben auf der Straße, sie fallen plötzlich einfach um. Die Überlebenden sind meist zu schwach, die Toten auf Kinderschlitten zum Friedhof zu bringen. Die Leichen bleiben einfach am Straßenrand liegen. Man gewöhnt sich schnell an ihren Anblick. Insgesamt sterben knapp 1,1 Millionen Menschen während der Blockade, ein gutes Drittel der Einwohner der Metropole.

Nach dem Krieg findet Gordina-Lieth keine realitätsnahe Literatur über die Blockade. Die Bewohner Leningrads werden in den sowjetischen Büchern als Helden gefeiert. Von Mord und Kannibalismus kein Wort. Leningrad erhält am 1. Mai 1945 den Titel „Heldenstadt Leningrad“. Stalin nutzt die Blockade für Propagandazwecke, die grausame Realität der „Blokadniki“ wird im Verborgenen gehalten.

Im heutigen St. Petersburg, wie die Stadt seit 1991 wieder heißt, ist die Blockade ab der 3. Klasse ein zentrales Thema im Unterricht. An Jahrestagen wie dem 8. September und dem 27. Januar machen die Schüler Ausflüge ins Blockademuseum oder zum Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof. Der 28-jährige Petersburger Denis Polivin erinnert sich noch gut daran, als seine damalige Klassenlehrerin von der Blockade erzählte. „Sie fing plötzlich an zu weinen und es dauerte wahrscheinlich eine Viertelstunde, bis sie sich wieder gefangen hatte.“

Von der 5. Klasse bis zum Abitur werden die Schüler einmal wöchentlich im Fach „Geschichte und Kultur St. Petersburgs“ unterrichtet. Die Blockade bildet einen thematischen Schwerpunkt des Fachs. Die Kinder werden mit Erzählungen aus dem Alltag der Überlebenden und historischen Bildern in das Thema eingeführt. Viele von ihnen kennen die Geschichten aber auch schon von klein auf: ihre Großeltern sind selbst Überlebende. LJUBA NAMINOVA