SELTSAME NACHT
: Der Gisbert

Die Dächer singen Lieder vom Verfall

Der Mann mit dem komischen Namen hat uns das wundervolle Leben und den ganzen blöden Scheiß erklärt. Und tut dies immer noch. Am Freitagabend spielte Gisbert zu Knyphausen im Neuköllner Heimathafen. In dessen mondänem Ballsaal erlebte ein frenetisches wie schweißgebadetes Publikum das vielleicht gänsehäutigste Konzert seines Lebens – und das trotz saunaartiger Luftfeuchtigkeit.

Eine mehr als zweistündige Offenbarung aus Schweiß, Tränen und Wahrheit. Verstanden, worum es geht, hatten aber nur diejenigen, die sich nach dem Konzert sagten: Es ist zwölf, ich bin gespannt, was sich ändert. Die Nacht lag in bunten Gewändern aus Regen und Hitzedunst, während die Kneipen Neuköllns ihre Pforten weit geöffnet hielten. Hier erzählten sich Beglückte wie Enttäuschte ihre stumpfen Geschichten und tranken sich dem Taumel der Nacht entgegen. Es ist eine Ironie der Geschichte, diese seltsame Nacht mit O. und S. zu durchwandern.

Unsere Vorgeschichte ist ein knyphausenscher Flickenteppich aus Verletzungen und Enttäuschungen. Aus dem Staub unserer Trümmer wurde vor Jahren die Zukunft geboren. Fernab voneinander. Und nun trinken wir zusammen auf die Liebe und ihre absurden Verrenkungen. Gedankenverloren schütten wir uns die Drinks ein, schütten mal mehr, mal weniger unser Herz aus und trinken, bis wir uns wieder verstehen. Unsere Gespräche suchen noch immer nach irgendeinem Sinn, und doch wissen wir alle drei, dass sich dieser immer wieder verändert.

Es ist fünf Uhr morgens. Während die Dächer über Neukölln Lieder vom Verfall singen, drängt zwischen ihnen das Licht die Dunkelheit zurück. Beim Blick aus dem Kneipenfenster wächst in mir die Angst vor dem Ende der Nacht, wenn das Licht uns fängt und der Tag uns bloß müde verlacht. Aber auch das geht vorbei. Und morgen gehe ich zum Flohmarkt und verscheuere auch diesen Tag. TOBIAS NOLTE