Die Kluft wird wieder größer

GUTACHTEN Serbiens Führung fühlt sich vom Westen hintergangen, denn die Entscheidung aus Den Haag weiche der zentralen Frage aus

Die Unabhängigkeit: Das Parlament des Kosovo hat am 17. Februar 2008 die Unabhängigkeit von Serbien erklärt.

Die Anerkennung: 22 EU-Staaten haben das Land anerkannt, fünf (Spanien, Zypern, Griechenland, Slowakei, Rumänien) nicht. 69 Mitglieder der UNO haben den Staat inzwischen anerkannt, neben den 22 EU-Ländern sind das u. a.: die USA, Kanada, Norwegen, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Japan, die Türkei, die Schweiz.

Andere Sezessionen: Weitere Gebiete, die ihre Unabhängigkeit vom Zentralstaat erklärt haben bzw. danach streben, sind u. a.: die Republika Srpska von Bosnien und Herzegowina, Nordzypern von der Republik Zypern, Abchasien und Südossetien von Georgien, Transnistrien von Moldau.

AUS BELGRAD ANDREJ IVANJI

Das am Donnerstag veröffentlichte Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag konnte aus westlicher Sicht nicht klarer sein: Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo habe das internationale Recht nicht verletzt, urteilte der IGH. Die meisten westlichen Staaten beeilten sich festzustellen, dass das nichts anderes hieße, als dass die Unabhängigkeit des Kosovo als solche im Einklang mit dem Völkerrecht sei und dass sich Serbien damit abfinden sollte.

Oder noch deutlicher: Der IGH gab der westlichen Kosovo-Politik Recht, die 1999 mit den „humanitären“ Luftangriffen auf die damalige Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) begann, die Stationierung der internationalen Friedenstruppe Kfor und die UNO-Zivilverwaltung ermöglichte und die am 17. Februar 2008 zur Unabhängigkeitserklärung führte. 69 von 192 UN-Mitgliedstaaten haben das Kosovo bisher anerkannt, darunter 22 EU-Länder und die USA.

US-Außenministerin Hillary Clinton rief noch am Donnerstag beide Staaten auf, ihre Streitigkeiten nun beizulegen und gemeinsam nach vorn zu blicken. „Das Kosovo ist ein unabhängiger Staat, dessen Territorium unverletzlich ist“, bekräftigte sie. Und die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton stellte sowohl Serbien als auch dem Kosovo eine Zukunft in der EU in Aussicht.

Feiern mit Champagner

Die Kosovo-Spitze feierte das Gutachten am Donnerstag mit Champagner. Die Entscheidung sei „weise“, sagte Staatspräsident Fatmir Sejdiu in Prishtina und fuhr fort: „Serbien hat vom IGH seine Antwort erhalten und sollte unsere Unabhängigkeit anerkennen.“

Doch für Belgrad ist das Gutachten, das nicht bindend ist, alles andere als eindeutig, im Gegenteil: Man fühlt sich wieder einmal ausgetrickst. Politiker, Medien und Juristen behaupten fast unisono, der IGH habe sich um die wesentliche Frage gedrückt, nämlich ob die „Sezession“ des Kosovo von Serbien das Völkerrecht verletzt habe. Da aus serbischer Sicht die Abspaltung das Völkerrecht verletze, habe sich der IGH darauf beschränkt zu sagen, dass die Kosovo-Albaner das Recht zu einer Unabhängigkeitserklärung hatten. Der IGH blieb jedoch die Antwort schuldig, ob der Staat Kosovo rechtswidrig entstanden sei, heißt es in Belgrad. Moskau stellte sich demonstrativ auf die Seite Serbiens.

Alles, was in Serbien Rang und Namen hat, bekräftigte, dass Serbien nie und nimmer das Kosovo anerkennen werde. „Die Entscheidung des IGH ist schwer für Serbien“, erklärte Staatspräsident Boris Tadic am Donnerstag. Viele Staaten würden nun unter dem Druck stehen, das Kosovo noch vor der UN-Vollversammlung im Herbst anzuerkennen. Serbien werde alles tun, um das zu verhindern, sagte Tadic. Er äußerte die Hoffnung, dass die UN-Vollversammlung die serbische Kosovo-Resolution annehmen werde, die Belgrad und Prishtina zur Wiederaufnahme der Statusverhandlungen aufruft.

Die Kluft zwischen Serbien und dem Westen scheint sich nach dem IGH-Gutachten noch zu vergrößern. Denn die Serben begreifen nicht, warum die Welt sie nicht verstehen will, wo doch aus ihrer Sicht alles so einleuchtend ist: Man hat einem souveränen, demokratischen, friedlichen Staat mit einer proeuropäischen Regierung einen Teil seines Territoriums weggenommen und fordert, dass die Serben wehrlos zuschauten.

Serbien fühlt sich so ungerecht behandelt, dass ein Politikwechsel beim Kosovo während dieser Politikergeneration ausgeschlossen ist

All die früheren Argumente für die sogenannte Notsezession gälten längst nicht mehr, weil Serbien seit der Wende vor fast einem Jahrzehnt niemanden mehr bedrohe. Für die Verbrechen, die in den Neunziger Jahren an Kosovo-Albanern begangen wurden, ist Slobodan Milosevic verantwortlich, den Serbien vor zehn Jahre an das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert hatte. Dort ist er 2006 gestorben.

Jenseits der serbischen Wehklagen vom Kosovo als der „Wiege des Serbentums“ sieht sich Serbien als Staat und Partner so ungerecht vom Westen behandelt, dass ein Politikwechsel beim Kosovo während dieser Politikergeneration ausgeschlossen ist. „Sollte Serbien zwischen die Wahl gestellt werden: Kosovo oder EU, würde sich Serbien für das Kosovo entscheiden müssen“, wiederholte Außenminister Vuk Jeremic nach der Verkündung des IGH-Gutachtens.

Der Fall Republika Srpska

Zu Wort meldete sich inzwischen auch Milorad Dodik, der Regierungschef der Republika Srpska, des serbischen Teilgebiets von Bosnien und Herzegowina. Es sei gut zu wissen, dass der IGH den Wunsch eines Volks nach der Unabhängigkeit über die Souveränität und territoriale Integrität eine Staats stelle, erklärte Dodik. Sollte es in der Republika Srpska dazu kommen, würden sich die Serben dort darauf berufen können. Weil die Republika Srpska auf ihre durch internationale Verträge garantierte Eigenstaatlichkeit beharrt, ist Bosnien und Herzegowina trotz erheblichen Drucks des Westens auch fünfzehn Jahre nach dem Krieg nicht zusammengewachsen. Wieder und wieder droht Dodik mit einem Unabhängigkeitsreferendum.