AM VIKTORIA-LUISE-PLATZ IN SCHÖNEBERG
: Eine verträumte Existenz für sozial offene Individualisten

VON DIRK KNIPPHALS

Die Fontäne ist echt fast eine Frechheit. Hoch schießt sie aus dem großen Brunnen in der Mitte der runden Parkanlage. Man ist mitten in Berlin, denkt aber an Kurorte wie Baden-Baden. Ist das hier am Viktoria-Luise-Platz in Schöneberg jetzt also der alte Westen?

Frau M., Anfang/Mitte 50, Journalistin und Essayistin, wohnt seit über 20 Jahren hier. Sie sieht das anders. Wir sitzen im „Montevideo“, einem der beiden großen Cafés (das andere heißt „Potemkin“), die in den Achtzigern Neue-Deutsche-Welle-Farben in das Quartier brachten und immer noch die zentralen Anlaufstellen darstellen. Es wird gefrühstückt und vorbeigeradelt. Nebenan liegt der Eingang zum Lette-Verein; er fügt dem Bild nicht nur historische Perspektiven von Bauhaus-Geist und Frauenemanzipation hinzu, sondern auch junge Leute.

Frau M. sagt: „Natürlich hatten sich hier alle Anwohner schon einmal selbst im Verdacht, dass sie inzwischen alt und langweilig geworden sind. Also haben sie alle Exkursionen Richtung Mitte oder Prenzlauer Berg unternommen. Man war da auf dem Biomarkt und in den Cafés. Aber dabei hat man halt festgestellt: Das alles hat man rund um den Viktoria-Luise-Platz doch auch. Nur eben unprogrammatisch.“ Das mit dem Unprogrammatischen ist für Frau M. der Hauptpunkt. Während es etwa am Kollwitzplatz ein unbewusstes Interesse gebe, sich klar zu definieren – Generation, Habitus, Outfit –, will man sich hier eben nicht sofort sozial festlegen. Keine Neue Bürgerlichkeit. Kein Kreuzberger Anti- oder Party-Bewusstsein. Aber auch kein Wilmersdorfer Intelligenzija-Schick. Oder von allem ein bisschen, wie es halt passt. „Das hier“, sagt Frau M., „ist eine Gegend für sozial offene Individualisten.“

Ein Blick in die Runde. Frau M. erzählt sofort, dass in diesem Café fast täglich die Korrespondenten der New York Times und der Los Angeles Times sitzen, aber auch alte Leute und samstags ein zehnprozentiger Lederschwulenanteil von der Motzstraße her. Sie erzählt von dem jährlichen Straßenfest des politisch aktiven und auch sonst engagierten türkischen Getränkehändlers um die Ecke, das – unterhalb des Medienradars – jedes Jahr größer werde. Frau M.: „Unter der individualistischen Oberfläche gibt es hier eine unideologische soziale Verbundenheit, die funktioniert.“ Die Gegend verkörpere etwas zutiefst Antiexzentrisches und Unkrisenhaftes. Hier geht es nicht um das nächste große Ding, sondern ums Gelingen im Kleinen.

Aber ist das nicht ziemlich langweilig? Diese Frage hat Frau M. erwartet. Sie sagt „Reizarmut“. Die müsse man hier halt teilweise in Kauf nehmen. Dafür könne man aber eben auch seine Ruhe haben. Frau M.: „Ich kann hier eine etwas verträumte, ungestörte Existenz führen, ohne mir dazu gleich ein einsames Örtchen im Umland suchen zu müssen.“

Und wie passt die Fontäne hier hinein? Diese Schlussfrage habe ich vergessen zu stellen. Aber die Antwort ist eh klar: Im Grunde passt sie gar nicht. Aber sie stört auch nicht. Hier muss nichts zusammenpassen.