Barrikaden und Politmanöver in Kiew

UKRAINE Opposition kämpft weiter, Proteste auch in anderen Städten. Präsident Janukowitsch bietet Kabinettsumbildung an. Bundesaußenminister Steinmeier bestellt ukrainischen Botschafter ein

KIEW afp/rtr/ap/taz | Der seit Wochen andauernde Machtkampf in der Ukraine geht weiter. Am Freitag verstärkte die Opposition ihre Barrikaden im Zentrum von Kiew. Teilweise bewaffnete Regierungsgegner rückten bis auf Sichtweite zum Präsidentenpalast vor und errichteten auch neue Posten etwa an der stark frequentierten Metrostation Chreschtschatik. Beim Stadion des Fußballclubs Dynamo Kiew, einem Brennpunkt der Proteste, entzündeten Demonstranten Autoreifen. Über der Sportstätte stiegen dichte schwarze Rauchwolken auf.

Präsident Wiktor Janukowitsch stellte am Freitagabend eine Kabinettsumbildung und Änderungen an den im Schnellverfahren beschlossenen Gesetzen zur Versammlungsfreiheit in Aussicht. Das Parlament werde in der kommenden Woche über die umstrittenen Gesetzesänderungen beraten, sagte Janukowitsch. Er reagierte damit auf Forderungen der Opposition, die jedoch weit mehr verlangt – vor allem Janukowitschs Rücktritt.

In der Nacht zum Freitag hatten Regierungsgegner das Landwirtschaftsministerium in Kiew besetzt. Auch aus anderen Städten des Landes wurde Proteste und gewaltsame Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften gemeldet. So stürmten der Nachrichtenagentur Unian zufolge Bürger im westukrainischen Riwne die Regionalverwaltung und forderten die Freilassung von Demonstranten. In Tscherkassi, rund 200 Kilometer südlich von Kiew, stürmten rund 1.000 Demonstranten das Haupt-Verwaltungsgebäude der Stadt und besetzten zwei Etagen des Gebäudes. Dabei wurde eine junge Frau schwer verletzt. Die Polizei nahm etwa 60 Demonstranten vorläufig fest. In Lemberg stürmten Hunderte Regierungsgegner das Büro des Gouverneurs und zwangen ihn, seine Rücktrittserklärung zu unterschreiben. Später zog er seine Demission zurück.

Am Donnerstagabend fand ein weiteres mehrstündiges Krisengespräch zwischen Vertretern der Opposition und Janukowitsch statt. Der Staatschef habe einen Rücktritt abgelehnt, sagte Oppositionspolitiker Vitali Klitschko vor zehntausenden Regierungsgegnern auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, rief aber gleichzeitig seine Anhänger zu „Waffenruhe“ und Geduld auf.

Den Bericht der Oppositionsführer über das Treffen mit Janukowitsch quittierte die Menschenmenge mit Pfiffen und „Schande!“-Rufen. Laut dem Oppositionspolitiker Oleg Tiagnibok forderte Janukowitsch den Rückzug der Protestbewegung aus der Gruschewski-Straße in der Innenstadt, an der unter anderem das Parlamentsgebäude und der Regierungssitz liegen. Am kommenden Dienstag soll das Parlament in einer Sondersitzung über die Forderungen der Opposition beraten.

International wuchs die Sorge, die Konfrontation in der Ukraine könne in ein großes Blutvergießen münden. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bestellte den ukrainischen Botschafter ins Auswärtige Amt. Steinmeier wolle dem Botschafter klarmachen, dass es „keine Gewaltanwendung“ geben dürfe und dass die beschlossenen Gesetzesänderungen zur Versammlungsfreiheit überprüft werden müssten, sagte sein Sprecher. Der französische Außenminister Laurent Fabius kritisierte den Schießbefehl an ukrainische Sicherheitskräfte als „inakzeptabel“.

Die EU verstärkte ihre Bemühungen um eine Entschärfung der Krise: Für Freitag wurde eine Reise von EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle nach Kiew angekündigt, für kommende Woche eine Reise der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) regte eine internationale Konferenz an.

Die Auseinandersetzungen in Kiew waren in dieser Woche eskaliert: Bei den bisher heftigsten Zusammenstößen gab es nach Angaben der Opposition fünf Tote und 1.700 Verletzte. Ein bekannter Aktivist der Opposition, der 35-jährige Dmitro Bulatow, wurde von seiner Frau am Donnerstag als vermisst gemeldet. Vor seinem mysteriösen Verschwinden hatte Bulatow gesagt, er sei in der Sowjetunion groß geworden – „und ich möchte nicht, dass meine Kinder so leben“.

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