Das perfekte Versteck

Nebenstelle (10): Vom Leben und Schreiben in der norddeutschen Provinz. Artur Becker braucht zum Schriftstellersein nicht nur irgendwelche Ruhe, sondern absolute. „Ungesund“ und „gefährlich“ wäre es da für seine Profession, das „verträumte Kaff“ zu verlassen, in dem er lebt

Es ist falsch und sogar fatal zu denken, der Blick werde von der Provinz geschärft, weil man mehr Zeit zum Studieren von Details hat

Wo man bei Cechov in der Hoffnung auf das wirkliche Leben nach Moskau rief, rufen und ziehen deutsche SchriftstellerInnen heutzutage in lemminghafter Einhelligkeit nach Berlin. Hieß es nicht einmal: Die Erneuerung kommt von den Rändern? Für die taz nord schreiben SchriftstellerInnen aus der norddeutschen Provinz, was das Wohnen fernab der Metropolen für ihr Schreiben und Leben bedeutet.

Ob man es mir glauben mag oder nicht – auch ich, der ewige Provinzler, brauche absolute Ruhe und Stille, wenn ich an meinen Büchern arbeite. Allerdings ist es mir ein Rätsel, wie es sich mit der Ruhe und Stille auf den Schreibtischen der großstädtischen Autoren verhält. Als ich im Herbst 2003 Stipendiat des Literarischen Colloquiums am Wannsee war, für ganze drei Monate, verbrachte ich mehr Zeit an der hauseigenen Bar mit Gesprächen und unterhaltsamem Trinken als mit dem Schreiben. Ich war längst nicht so produktiv wie zu Hause an der Aller, wo ich in dem verträumten Kaff Verden lebe, und das seit mehr als 20 Jahren.

Ich habe etwas dagegen, dass aus der Literatur die heilige Kuh gemacht wird. Besonders gut geht diese Umwandlung in einer Großstadt von statten. Allein der Gedanke, dass ein paar Straßen weiter ein Kollege auch an einem Gedicht oder Roman arbeitet, würde auf mich schreibhemmend wirken. Ich bin die Literatur, ich bestimme, wo es lang geht, und für diese Strategie ist der provinzielle, abgelegene Spielplatz, die berühmte einsame Insel sozusagen, die Voraussetzung in meinem Schaffen – ein Glücksfall, wenn man so will. Wie heilig diese literarische Kuh werden kann, zeigt am besten der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb: Rituale des TV-Wettlesens und latente Hysterie mancher Beteiligten verbinden Jahr für Jahr das (Un)Angenehme mit dem Nützlichen.

Ich möchte natürlich niemanden an den Pranger stellen, und jeder soll schreiben, wo er will, soll sagen, was er für richtig hält, aber insbesondere Schriftsteller lassen sich leicht ablenken, weil sie sich ihre kindliche Neugierde bewahrt haben. Sie sind verführbar und deshalb anfällig für jede Form von übertriebenem Genuss oder großer Leidenschaft.

Authentisch müssen die Geschichten sein, aus Fleisch und Blut, aus dem Herzen erzählt, reines Heroin soll in den Adern fließen, das ist klar, und dennoch ist der Ort mit seinem Genius Loci maßgeblich daran beteiligt, ob ein Buch gelingt oder misslingt.

Ich werde von guten Freunden belächelt, dass ich bis Mittag schlafe, obwohl sie wissen, dass ich mir am Computer die Nächte um die Ohren schlage. Wenn die Menschheit schläft, finde ich die nötige Konzentration, die ich brauche, für jede Zeile. Das heißt nichts anderes, dass selbst mein kleines Städtchen Verden am Tage zu laut ist, zu aufdringlich. Es muss nicht einfach mucksmäuschenstill sein, die Welt muss ruhen, das weltliche Theater geschlossen sein.

So viel zur Theorie meines Standortes.

Ich bin in der Provinz aufgewachsen. Sie ist mein Täglichbrot bis heute. Ich wohne direkt am Bahnhof, und wenn dienstlich-literarische Ausflüge anstehen, bin ich nicht nur auf Reisen. Ich koste dann meine Freiheit aus und freue mich, dass ich wieder unter verrückten Menschenmassen bin. Sobald ich jedoch zu Hause lande, werde ich das Kind, das ich einmal in Bartoszyce, in meiner polnischen Geburtsstadt, war. Seltsam mein Schicksal: Auf dem Weg von Polen nach Deutschland verschlug es mich wieder an eine einsame Gegend, an einen Fluss namens Aller. Der Fluss meiner Kindheit im ehemaligen Ostpreußen hieß allerdings Alle. In der BRD wurde ich reicher um das deutsche R, das ich bis heute selten richtig aussprechen kann. Mein masurisch-polnisches R ist angeblich viel zu hart – in meinen Ohren klingt es aber weich und sanft.

Das Leben in der Provinz ist natürlich kein berauschendes Fest, zumal ihre Philister unerträgliche Zeitgenossen sein können. Des Öfteren sehne ich mich deshalb nach dem großstädtischen Trubel. Manchmal kommt sogar der Gedanke, meine kleine Heimat zu verlassen und nach „Babylon“ zu flüchten, in irgendeine europäische Metropole. Doch immer wieder gelange ich zu dem Schluss, dass ich mein Schicksal nicht betrügen kann. Es wäre für mein Schreiben „ungesund“ und „gefährlich“, die Provinz zu verlassen. Ich brächte kein vernünftiges Wort mehr zustande. Das weiß ich. Ich würde mich der Dekadenz des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens einer Großstadt mit Inbrunst widmen und auf zahlreichen Partys meine Disziplin verlieren. Während aller Aufenthaltsstipendien, ob in New York, Krakau oder Rom, verbrachte ich unzählige Abende und Stunden in den Cafés, lesend, diskutierend und trinkend: Die illusorische Kraft des „Maya“, die bei den Buddhisten die Fesseln und Täuschungen der Materie bezeichnet, hatte mich gefangen genommen. Nach meiner Rückkehr an den Fluss Aller versteckte ich mich wieder in meinem Arbeitszimmer und reiste im Geiste, in den Träumen und Geschichten aus alten Zeiten zu meinen Kindheitsorten, quer durch unsere kleine Milchstraße.

Auf der Suche nach Schönheit und Unsterblichkeit muss man sich zurückziehen. Die Propheten und Eremiten haben es uns viele Male vorgemacht, wie man diesen Weg der Einsamkeit bestreitet. In Verden bin ich mehr oder weniger ein Eremit. Außer mir gibt es hier niemanden, der Bücher schreiben und publizieren würde. Und ich habe nicht das Gefühl, dass man mich beobachtet oder dass ich etwas falsch mache, etwas Unerhörtes und Verpöntes. In Verden bin ich die Unschuld in Person. Vielleicht ist es mir doch gelungen, meine Kindheit erfolgreich zu verlängern.

Seltsamerweise ähnelt meine masurische Geburtsstadt Barto-szyce dem niedersächsischen Ort Verden sehr, vor allem, was die schläfrige Atmosphäre der beiden Städtchen angeht. Wer die Erzählungen „Die Zimtläden“ von Bruno Schulz kennt, weiß, wovon ich spreche. Die Nächte schlafen wirklich – insbesondere im Winter, der Sternenhimmel bedeckt sich nicht mit großstädtischem Nebel der künstlichen Irrlichter, die Herzen der Metzger und der Gemüsehändler auf dem Markt schlagen langsamer, und jeden Tag herrscht der Sonntag, der lethargischste Tag der Woche. Katzen und Hunde, Säufer und Jugendbanden sterben vor Langeweile. Züge, die nachts rauschen, sind Boten aus einer fernen, unbekannten Welt. Die Taxifahrer freuen sich, wenn sie nachts irgendwelche Kundschaft erwischen – sonst schlafen sie über ihren Zeitungen oder Trivialromanen ein. Im städtischen Wald grassiert der Tod, und der Arbeitsamtsdirektor wird von einem wahnsinnigen Arbeitslosen erstochen. Die katholischen Friedhöfe werden von der Heiligen Maria bewacht, die evangelischen zu Tode gepflegt, und die Toten sind jedem nah, weil man sich von der Straße kennt.

In Warmia und Masuren, in Bartoszyce an der russischen Grenze und an meinem Kindheitssee Dadaj, träumte ich einmal davon, ein Weltenbummler zu werden. Ich wusste damals nicht, dass wahrhaft große Reisen nur im Geiste stattfinden, nicht auf Erden. Und es ist falsch und sogar fatal zu denken, dass der Blick von der Provinz geschärft wird, weil man mehr Zeit zum Studieren von Details hat. Das ist eine Täuschung. In der Provinz entdeckt man so viele Details und vor allem Symbole für seine eigene Existenz, dass es einem schwindelig wird. Ein einziges Leben reicht nicht aus, um die Wahrheit über die Symbolik des Ortes, an dem man leben muss, herauszufinden. Sie werden zum kosmischen Weltenbummler und fragen sich jeden Tag: »War das schon alles? Nein, das kann nicht angehen! Ich will mehr!« ARTUR BECKER