Massenproduktion und Selbstversuch

PHARMAZIE Die neue Dauerausstellung „Pillen und Pipetten“ im Technischen Museum Berlin wirft einen Blick auf die Geschichte der Pharmaindustrie und unseres Körperbewusstseins, die ins 19. Jahrhundert zurückreicht

Was man aus der Ausstellung mitnimmt, ist vor allem eine schrittweise Veränderung des Körperbewusstseins und damit eine kritischere Haltung gegenüber Arzneimitteln

VON ISABEL METZGER

Das Geschäft mit der Gesundheit beäugen viele Menschen mit Argwohn. Spätestens seit den 1960er Jahren verlor die Pharmaindustrie an Glaubwürdigkeit – als nämlich der Contergan-Skandal durch die Medien ging und für Empörung sorgte: Das Mittel gegen Schwangerschaftsbeschwerden führte in einigen Fällen zu Missbildungen der Neugeborenen.

Es gab eine Zeit, da schienen Ärzte echte Halbgötter in Weiß, ins Wartezimmer ging man mit Gottvertrauen. Die Lichtgestalt schrieb ein paar kryptische Pflanzennamen aufs Rezept, und der Apotheker mischte das Ganze in seinem Mörser zusammen – irgendwie. Manchmal war die Dosis zu hoch, die Nebenwirkungen standen auf keiner Packungsbeilage. Den Apotheker hätte man zwar fragen können, aber auf die Idee muss man erst mal kommen, dass die Einnahme des Wunderpulvers auch gefährlich werden kann.

Die neue Dauerausstellung „Pillen und Pipetten“ des Deutschen Technik Museums beginnt da, wo jene Industrialisierung der Pharmazie- und der Chemieproduktion ihren Ursprung hat: um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals standen die modernen chemischen Untersuchungsmethoden noch am Anfang. Man sieht frühe Mikroskope: Metallrohre, unter die man auf den Objekttisch – eine einfache Platte – die Proben schraubte. Die Pipetten hatten oben ein Loch, durch das man mit großer Vorsicht Flüssigkeiten in das Glasrohr einsog. Bei der Entwicklung neuer Arzneien unternahmen Chemiker oft Selbstversuche. „Es gibt Erfahrungsberichte aus jener Zeit, die nicht nur Farbe und Geruch der Substanzen beschreiben, sondern auch den Geschmack: bitter, brennt im Abgang“, erzählt Volker Koesling, Kurator der Ausstellung.

Sobald die Tabletten im immergleichen Einheitsbrei übers Fließband rollen, sobald der Apotheker nicht mehr für jeden Kranken individuelle Tinkturen mixt, da kommt eine gewisse Verbindlichkeit ins Spiel. Wo Aspirin draufsteht, da muss Aspirin drin sein. Denn der Inhalt, die Dosierung, das Mengenverhältnis der Tabletten wird von den Maschinen immer wieder gleich in die Matrizen gepresst – eindrucksvoll in Aktion zu sehen: eine „Rundläuferpresse“, die pro Stunde bis zu 300.000 Tabletten auswerfen kann. Massenproduktion meint deshalb auch eine Emanzipation des Laien, der ansonsten (auch heute noch) auf die Kompetenz der Ärzte und Apotheker vertrauen muss.

Doch die modernen chemischen Untersuchungsmethoden standen 1850 noch am Anfang. Erst um 1870 katalogisierten die Wissenschaftler Dmitri Mendelejew und Lothar Meyer die Elemente in einem Periodensystem. Die Fortschrittseuphorie des 19. Jahrhunderts begünstigte den guten Ruf der Wissenschaften und damit auch eine Arglosigkeit gegenüber Neuentwicklungen aus dem Labor überhaupt. Die chemische Keule galt als Wunderwaffe im Kampf gegen die Kartoffelkäferplage in den späten 1930er Jahren. Ein Film der Ausstellung zeigt, wie Bauern zentnerweise Arsenkalk auf ihre Acker schleuderten. Und dann liest man noch von einer andere Keule: Antibiotika. Im Krieg waren sie begehrtes Heilmittel. Dass sie den Körper schwächten und – falsch angewandt – zu Resistenzen führten, wusste man nicht.

Was man aus der Ausstellung mitnimmt, ist vor allem eine schrittweise Veränderung des Körperbewusstseins und damit eine kritischere Haltung gegenüber Arzneimitteln. In Deutschland oblag der Nachweis über die Unbedenklichkeit eines neuen Medikaments lange Zeit allein der Verantwortung der Unternehmen. Den mühsamen Weg durch den Behördendschungel konnte man so elegant umschiffen. Die Medikamente sollten schnell auf den Markt gelangen, Geld in die Kassen fließen. Doch die Realität der Anwendung machte in den 70ern einen großen Strich durch die Rechnung: Die Ausstellung beleuchtet noch einmal den Skandal um das Mittel Contergan, das im Verdacht stand, bei ungeborenen Kindern Missbildungen zu verursachen. Das neue Arzneimittelgesetz schrieb daraufhin erstmals klinische Tests vor.

Ein langer Schlauch an Vorarbeit steckt seither drin, wenn man eine neue Pille produzieren möchte, vor allem aber auch eine Menge Geld. Von der Entwicklung des Wirkstoffs bis zur Vermarktung des neuen Produkts fließen gut und gerne 400 Millionen Euro, erfährt man. Die Auflagen sind hoch, fast absurd hoch, will man dem Kurator glauben: „Wenn Sie einem Hund Aspirin geben, dann fällt er tot um: Das Produkt wäre also heute gar nicht durchgekommen.“

■ Dauerausstellung im Deutschen Technik Museum Berlin, Di.–Fr. 9–17.30 Uhr, Sa. + So. 10–18 Uhr