Die Freiheit Andersdenkender, die er sich nimmt

PANTER-PREIS-KANDIDAT IV Matthias Seibt kämpft für die Rechte von Psychiatrie-Erfahrenen – und weiß, wie sehr er Politiker nervt und stört

Die Nominierten: Sechs Kandidaturen hat unsere fünfköpfige Jury für den diesjährigen Panter Preis ausgewählt; heute stellen wir Ihnen Matthias Seibt für diese Auszeichnung um Mut und Engagement vor. Er kämpft als ehemaliger Psychiatriepatient für die Rechte von „psychisch Kranken“.

Die Verleihung: Am 18. September wird im Deutschen Theater Berlin der Panter Preis verliehen. Genau genommen sind es zwei Panter Preise, mit denen Projekte ausgezeichnet werden, die von persönlicher Courage geprägt sind. Beide Preise sind mit je 5.000 Euro dotiert. Einen Preis vergibt eine Jury aus tazlerInnen mit prominenter Hilfe, einen zweiten vergeben Sie.

Die Porträts: Seit vier Wochen können Sie die KandidatInnen jeweils in der sonntaz und auf taz.de begutachten und schließlich jeneN, der oder die Ihnen am preiswürdigsten scheint, für den taz Panter LeserInnenpreis wählen. Nach Farzin Akbari Kenari, Kerstin Wessels/Steffen Pohl, André Shepherd und Matthias Seibt stellen wir Ihnen an gleicher Stelle an den beiden kommenden Samstagen in der sonntaz die oder den fünfteN und sechsteN Kandidaten oder Kandidatin vor.

Mehr Infos: taz.de/panter

VON MARGARETE STOKOWSKI

„Als Verrückter darfst du dir alles erlauben. Du wirst sowieso nicht ernst genommen.“ Matthias Seibt weiß, in welchem Dilemma er steckt. Der Diplompsychologe kämpft seit Jahren gegen psychiatrische Zwangseinweisungen – als ehemaliger Psychiatriepatient.

Seibt ist Gründungsmitglied und Vorstand im Verband Psychiatrie-Erfahrener e. V. für Nordrhein-Westfalen. In dieser Organisation treffen sich Betroffene und Gefährdete. „Wir setzen uns für Selbsthilfe und gegen politische Diskriminierung ein“, sagt Seibt. Als Motiv seiner politischen Arbeit sieht der 50-Jährige unter anderem die Änderung der Psychisch-Kranken-Gesetze, die regeln, welche Rechte potenziell kranke Menschen haben. Seibts Ziel: Diese Menschen sollen genauso selbstbestimmt und selbstverantwortlich leben dürfen wie andere auch.

Als Seibt zum ersten Mal in die Psychiatrie eingewiesen wird, ist er gerade mal 17 Jahre alt. Er sei damals einsam und etwas verwirrt gewesen – wie so viele Jugendliche in diesem Alter. Doch die Ärzte in seiner Heimatstadt Soest verschreiben Seibt Neuroleptika, lassen ihn zehn Wochen in der Klinik. „Als ich wieder rauskam, schaffte ich es nicht, die Medikamente abzusetzen. Sie machten mich benommen, wie zehnmal Kiffen.“ Sieben Jahre bleibt er in diesem „Neuroleptika-Dusel“, wie er es nennt.

Inzwischen lebt Seibt seit 26 Jahren fast ohne Medikamente. Er hat immer noch ein bis vier Krisen im Jahr, nimmt dann Schlafmittel. Heute weiß er, wie er mit solchen Phasen umgehen muss – und dass sie vorbeigehen. Doch bis Seibt so klar sagen konnte, was sein Problem ist, vergingen Jahre. Er las alles, was er zum Thema Psychiatrie fand, studierte Psychologie in Bochum, nahm Kontakte zu anti-psychiatrischen Initiativen auf. In seinen Universitätsjahren stellte er fest, sogar viele PsychologInnen pflegten „unkritischen Umgang“ mit der Psychiatrie. „Dabei müssten sie es eigentlich besser wissen“, seufzt Seibt.

So zeigt etwa eine Untersuchung des Gesundheitsministeriums in NRW Unterschiede bei Zwangseinweisungen in verschiedenen Bundesländern. In Bremen ist das Risiko für eine Zwangseinweisung 15-mal höher als im Saarland – ein Hinweis auf die Willkür der Entscheidung. „Für Seelisches gibt es keinen Test wie für Diabetes oder Aids“, sagt Seibt. „Ob jemand psychisch krank ist“, sei „letztlich Ansichtssache“. Durch die häufige Verordnung von Psychopharmaka wird die Lebenserwartung der PatientInnen stark gesenkt. Das Argument, psychisch Kranke seien gefährlich, ist durch Studien nicht belegt – nachgewiesen ist allerdings die hohe Suizidrate von psychisch Kranken in Kliniken.

„Für viele Leute sind wir so etwas wie Untermenschen“

PSYCHIATRIEEXPERTE MATTHIAS SEIBT

Matthias Seibt redet mit sanfter Stimme. Er zögert oft, ehe er antwortet. Man spürt, wie er abwägt, sich Pausen zum Denken nimmt. Seibt bezeichnet sich selbst als radikal antipsychiatrisch und wünscht sich, konsequenterweise, langfristig die Abschaffung der Psychiatrie. Er weiß natürlich, dass eine sofortige Erfüllung seiner Forderung alle Beteiligten überfordern würde. Stattdessen hält er für wichtig, die Öffentlichkeit aufzuklären und die Rechte der Kranken zu sichern: Videoüberwachung in Kliniken abschaffen, neue Studien beachten, maßvoll mit Medikamenten umgehen. Er weiß: „Für manche Leute sind Psychopharmaka das richtige Mittel zur richtigen Zeit.“

Um sein Anliegen zu verbreiten, berät Seibt andere Menschen in seinem Bochumer Büro, begleitet sie in schweren Zeiten, schreibt Aufsätze, hält Vorträge, spricht mit Parteipolitikern. Er weiß sehr genau, dass sein Anliegen nur schwer Gehör findet: „Seelisch kranke Menschen nerven. Es wäre einfacher ohne sie.“ Wer als krank gilt und den Mut hat zu kämpfen, gilt als noch verrückter. „Für viele Leute sind wir so etwas wie Untermenschen. Wir zählen nicht.“ Seibt redet über diese Tragik ruhig und reflektiert, macht zwischendurch Witze und wird dann wieder sehr ernst – als Betroffener in eigener Sache kann er nicht anders.

Sein Ziel ist es nicht, normal zu werden: „Wenn ich daran denke, was heute alles normal ist …Nein, normal zu sein ist eigentlich auch kein Kompliment.“