Das helle Licht der Unvernunft

Daniel Keyes’ Science-Fiction-Klassiker „Blumen für Algernon“ in einer neuen Übersetzung

Charlie Gordon ist Anfang dreißig und hat einen IQ von 68. Das ist nicht viel, aber Charlie ist motiviert. „Ich möchte gern Intelgent sein“, notiert er in eigentümlicher Orthografie in seinem Tagebuch. Tatsächlich bekommt er seine Chance. Er wird als Versuchsperson für ein medizinisches Experiment ausgewählt, und so wird er „der ersde Mensch desen Intelgents durch die Schirurgi erhöt wird“. Bereits wenige Wochen nach dem Eingriff verbessert sich nicht nur seine Rechtschreibung. Charlie Gordons Traum ist in Erfüllung gegangen – zumindest sieht es erst einmal so aus. Sein IQ hat sich in kürzester Zeit verdreifacht, und anstatt den Fußboden in einer Bäckerei in Brooklyn zu putzen, beschäftigt er sich jetzt mit den „Etymologien alter Sprachen, den neueren Werken über Variationsrechnung und der Geschichte der Hindu“.

„Blumen für Algernon“ heißt dieser Roman, den der amerikanische Psychologe Daniel Keyes im Jahre 1966 veröffentlichte. Er zählt zu den Klassikern der Science-Fiction-Literatur, und nachdem er in Deutschland lange vergriffen war, erscheint er jetzt endlich neu und in einer überarbeiteten Übersetzung. Das Buch ist vierzig Jahre alt, aber es liegt im Trend: Die Geschichte von Charlie Gordon, der durch zweifelhafte wissenschaftliche Methoden zu einem „höheren Menschen“ gemacht werden soll, ist im Zeitalter der Gen- und Nanotechnologie aktueller denn je.

Erwartungsgemäß nimmt das Experiment einen unglücklichen Verlauf. Charlie ist ein fehlerhafter Prototyp, und im Verlauf der Behandlung wird er tragischerweise intelligent genug, um das auch zu begreifen. Die ersten Anzeichen für das Scheitern des Experiments stellt er allerdings nicht an sich selbst fest, sondern an der Labormaus Algernon. An ihr waren die „gehirnchirurgische Techniken und Enzym-Injektionsverfahren“ getestet worden, und obwohl sie zunächst immer kompliziertere Aufgaben lösen kann, wird sie „auf der Höhe ihrer Leistungen unbeständig“. Anders gesagt: Algernon wird wieder so dumm wie alle anderen Mäuse auch. Charlie Gordon befürchtet zu Recht, dass ihm das gleiche Schicksal bevorsteht.

Mit seinen Zweifeln am wissenschaftlichen Fortschritt stieß Daniel Keyes damals zunächst auf Widerstand. „Flowers for Algernon“ war 1959 zwar zunächst in Form einer Kurzgeschichte in The Magazine of Fantasy and Science Fiction erschienen und im Jahr darauf mit dem bedeutenden Hugo Award ausgezeichnet worden. Nachdem Keyes die ursprüngliche Fassung zu einem Roman erweitert hatte, bestand der Verlag allerdings auf einem Happy End. Charlie sollte seine intellektuellen Fähigkeiten behalten und ein glückliches und erfülltes Leben führen. An dieser Reaktion zeigt sich nun genau der zwanghaft optimistische Zeitgeist der Fünfziger- und Sechzigerjahre, den Keyes bloßstellen wollte. In dem Jahrzehnt zwischen dem Sputnik-Schock und der Mondlandung war kein Platz für „unzurechnungsfähige“ und „retardierte“ Menschen wie Charlie Gordon, und so feiert sein Versuchsleiter den scheinbar gelungenen Ausgang des Experiments als Erfolg des „social engineering“: „Anstelle eines geistesschwachen Gehäuses, einer Bürde der Gesellschaft, haben wir nun einen Mann von Würde und Feingefühl vor uns, der bereit ist, seinen Platz als aktives Mitglied in der Gesellschaft einzunehmen.“

Daniel Keyes bestand auf seinem pessimistischen Ende – und lag damit richtig. „Blumen für Algernon“ ist seit seinem Erscheinen in 27 Sprachen übersetzt worden und hat sich rund fünf Millionen Mal in der ganzen Welt verkauft. Am Anfang des 21. Jahrhundert wird man ihn allerdings nicht nur als Kommentar zur gegenwärtigen Renaissance der Wissenschaftsgläubigkeit lesen, sondern auch als zeitloses literarisches Werk. Keyes, der mit seinen späteren Büchern den Erfolg von „Blumen für Algernon“ nie wiederholen konnte, spielt an verschiedenen Stellen auf Platons Höhlengleichnis an, und tatsächlich handelt sein Roman von der Tragödie der Erkenntnis. Es geht um das gleißende Licht der Vernunft, ohne das diejenigen, die aus der Dunkelheit emporgestiegen sind, schon bald nicht mehr leben wollen. Sie sind süchtig geworden: „Ich kann nicht wieder in diese Höhle hinabsteigen“, wehrt sich Charlie Gordon kurz vor dem endgültigen Scheitern seines Experiments noch einmal verzweifelt gegen den Verlust seiner gerade erst erworbenen Fähigkeiten.

Es ist umsonst. Er kehrt zurück zu den „Gefesselten in der Höhle“ und leidet wie ein Junkie auf Entzug: „Ich wünsche ich könte so fort wieder Intelgent sein.“ Ob es ihn wirklich glücklich machen würde? Zuletzt ist man nicht mehr sicher. Diese Ambivalenz macht „Blumen für Algernon“ zu einem wirklich interessanten und aufregenden Roman. KOLJA MENSING

Daniel Keyes: „Blumen für Algernon“. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Eva-Maria Burger. Klett-Cotta, Stuttgart 2006, 298 Seiten, 19,50 Euro