„Hier in Berlin sind die Briten viel extrovertierter als in ihrer Heimat“

DIE BUCHHÄNDLERIN Bücher sind für Sophia Raphaeline schlicht wie die Luft, die sie zum Atmen braucht. Früher war sie mal ein Mann, heute lebt Raphaeline als Frau – und hat sich dennoch nie im falschen Körper eingesperrt gefühlt. Ein Gespräch über Deutsch als Anstrengung, Kreuzberg als ein Hort der Freiheit und das Tolle am Frausein

■ Die Frau: Geboren wird Sophia Raphaeline 1952 in London – als Mann. Sie macht einen Universitätsabschluss in Philosophie und Psychologie und dann eine Ausbildung in Psychotherapie – „aber“, sagt sie, „wie die meisten Trans-Menschen hätte ich eigentlich einen Doktor in Gender Studies verdient.“

■ Die Berlinerin: Nach jahrelangem Pendeln zwischen Themse und Spree lässt sich Sophia Raphaeline Ende der Neunziger fest in Berlin nieder und eröffnet im Bergmannkiez „Another Country“ (Riemannstraße 7) – ein Second-Hand-Buchladen, der auch als Bücherei benutzt werden kann. Die Bücher können gekauft oder eben geliehen werden. Dienstags werden im Another Country englischsprachige Filme gezeigt, freitags lädt Raphaeline zur „Dinner night“. www.anothercountry.de

■ Die Verwandelte: Seit Raphaeline 2008 eine schwere Krankheit überstanden hat, erlebt sie sich als Frau – inzwischen lebt sie auch als Frau. In Kreuzberg nimmt daran niemand Anstoß, sagt sie, aber in ihr Brandenburger Häuschen fährt sie aus Angst vor Übergriffen nicht mehr.

INTERVIEW JACINTA NANDI
FOTOS JOANNA KOSOWSKA

taz: Frau Raphaeline, wir sitzen hier in Ihrer Buchhandlung in der Kreuzberger Riemannstraße. Wobei – ist es überhaupt eine Buchhandlung?

Sophia Raphaeline: Ich betrachte es eher als Bibliothek. Sie können zwar 90 Prozent der Bücher kaufen, aber gleichzeitig verleihe ich auch 90 Prozent der Bücher.

Dieselben 90 Prozent?

Nein, passen Sie auf: Zehn Prozent kann man nur leihen und zehn Prozent kann man nur kaufen. Alle übrigen Bücher kann man entweder kaufen oder ausleihen.

Und was bezwecken Sie mit diesem Mischkonzept?

Mir ist es sehr wichtig, die Qualität meiner Bücher zu erhalten. Und wenn eine gewisse Anzahl permanent in der Sammlung bleibt, bewahrt das die Gesamtqualität. Sie wissen doch bestimmt: Schlechte Bücher verjagen gute Bücher.

Was sind denn gute Bücher für Sie?

Meine Lieblingsbücher sind die, von denen ich weiß, dass sie besser sind als ihr Ruf. Bücher, die vernachlässigt wurden.

Ohne Bücher könnten Sie nicht leben, oder?

Ich habe mal überschlagen, dass ich rein rechnerisch zwei Bücher pro Tag meines Lebens gelesen habe. Also von Geburt an. Wissen Sie, was ich damit sagen will? Bücher sind nicht nur ein wichtiges Element in meinem Leben, sie sind die Luft, die ich atme. Und die Eröffnung der Buchhandlung war irgendwann ein natürlicher Schritt: Ich hatte rund 12.000 Bücher gesammelt. Was hätte ich sonst mit denen tun sollen?

Können Sie von diesem Geschäftsmodell leben oder ist das mehr ein Hobby?

Ich verdiene wirklich nicht viel mit dem Laden. Ich hatte früher eine Wohnung in London, und vom Gewinn, mit dem ich sie verkauft habe, zehre ich immer noch. Insofern ist der Laden tatsächlich ein Hobby – aber eines, für das ich mehr als achtzig Stunden pro Woche aufwende. Dabei sind die Bücher gewissermaßen gar nicht so wichtig. Wofür ich mich wirklich begeistern kann, das sind die Momente hier im Laden, wenn man andere englische Muttersprachler kennenlernt. Hier in Berlin sind sie so viel extrovertierter als in ihrer Heimat.

Warum das denn?

Aus demselben Grund, warum die Deutschen so gut feiern können. Warum können die das, was glauben Sie? Ganz einfach: weil sie so erleichtert sind, nicht arbeiten zu müssen. Endlich mal nicht arbeiten! Genau so ist es für die expats, die zu mir kommen: Sie sind erleichtert, mal kein Deutsch sprechen zu müssen. Deutsch sprechen ist auf Dauer ganz schön anstrengend, es ist harte Arbeit, und davon befreit zu sein ist sehr entspannend. Also kommen die Leute in den Laden und sagen: Hier kann ich wieder ich sein. Das mochte ich von Anfang an.

Wie setzt sich denn Ihre Kundschaft zusammen?

Die meisten Leute sind expats, zwei Drittel der Kunden, würde ich schätzen. Der Rest sind Deutsche. Wahrscheinlich viele Akademiker, bestimmt auch Künstler. Ich denke, viele von ihnen lieben unkonventionelle Orte. Die kommen dann auch immer wieder.

Ihr Laden ist also auch ein Treffpunkt?

Für englischsprachige Berliner ist er eine kleine Oase, glaube ich. Zwei- oder dreimal im Jahr kommen Leute zu mir, die sagen, dass sie glatt Selbstmord begehen würden, wenn es meinen Laden nicht gäbe. In einem von sechs Fällen glaube ich das sogar.

Sie bieten ja auch Veranstaltungen an.

Ja, freitags lade ich immer zum Dinner. Aber ich will das noch ausbauen, ich plane Quiz- und Open-Mike-Abende. Irgendwann soll ein Verein aus dem Laden werden, damit er weiterleben kann, wenn ich mal aufhören muss. „Another Country“ soll ein Ort werden, der Berlins englischsprachige Community und Kultur unterstützt.

Aber ein paar Deutsche kommen offensichtlich auch.

Ja, natürlich. Wobei die meisten freundlicherweise Englisch sprechen. Also, ich kann auch Deutsch sprechen – wenn man mich dazu zwingt. Zum Glück kommt das nicht so oft vor.

Fühlen Sie sich immer noch sehr britisch?

Ich würde zum Beispiel nie die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen. Die Berliner Staatsangehörigkeit, die hätte ich gern! (lacht) Ich bin Berlinerin. Ich habe nie Heimweh nach anderen Orten, das ist jetzt schon seit neun Jahren so. Damals befand ich mich auf dem Rückweg von London hierher und dachte plötzlich: Oh, ich komme nach Hause zurück!

Wie hat es Sie denn nach Berlin verschlagen?

Alle, die dauerhaft nach Berlin kommen, kommen wegen Beziehungen. Bei mir war das nicht anders. Ich habe Ende der achtziger Jahre viele Leute hier kennengelernt, die wie eine große britische Familie für mich waren.

Aber warum waren Sie überhaupt hier?

Nach meinem Psychologie-Studium hatte ich mit einer Therapieausbildung angefangen, ich kannte viele Psychotherapeuten. Zwei, mit denen ich sehr eng befreundet war, zogen nach Berlin – und ich hinterher. Anfangs bin ich noch zwischen London und Berlin gependelt und irgendwann hiergeblieben.

Was mögen Sie an der Stadt?

Vor allem liebe ich Kreuzberg. Ich wohne hier auch, über meinem Laden. Klar wird Kreuzberg gerade schlimmer – teurer, spießiger, gentrifiziert, besser für die Touristen, schlechter für die Berliner. Aber das ist überall so und war auch schon immer so. Das muss so sein, leider. Andererseits wird Berlin dadurch immer wieder neu erfunden. Jede Generation, die nach Berlin zieht, erfährt als Erstes von der goldenen Zeit, die sie gerade verpasst hat. Das ist sehr wichtig für Berlin: Es braucht ein mythisches Goldenes Zeitalter, zu dem es sich in Bezug setzen kann. Und außerdem gibt es trotz Gentrifzierung eine Freiheit in Kreuzberg, wie sie mit keinem anderen Ort auf der Welt vergleichbar ist.

Vor einiger Zeit haben Sie eine Veränderung durchgemacht, zu der es großer Entschlossenheit bedurfte. Vielleicht war es ja einfacher, weil die Kreuzberger so frei sind: Sie sind vom Mann zur Frau geworden. War das ein lang gehegter Wunsch?

Wissen Sie, ich habe mich früher nie als Frau gefühlt. Aber vor sechs Jahren wurde ich sehr krank, ich bekam eine Lebersklerose. Und diese Erkrankung hat mich irgendwie verändert. Als es mir wieder besser ging und ich aus der Klinik kam, stand ich im Laden und alles war plötzlich komisch. Alles war anders, alles sah anders aus. Es war, als hätte ich Drogen genommen. Der Arzt konnte aber nichts feststellen.

Sie sind durch eine Krankheit zur Frau geworden? Ist das metaphorisch gemeint?

Nein, im vollen Ernst. Ich glaube, dass die Medikamente meinen Hormonhaushalt beeinflusst haben. Oder sagen wir, es war eine Mischung aus den Effekten der Krankheit und der Medizin. Andere Leute verlieren durch so etwas vielleicht das Interesse am Sex, aber bei mir hatte es stärkere Effekte. Das klingt vielleicht komisch und passiert bestimmt nicht häufig. Aber ich bin überzeugt, dass es so war. In meinem Gehirn sind seltsame Dinge passiert.

Was hat diese Veränderung für Sie bedeutet?

Sehen Sie, es gibt verschiedene Arten zu kommunizieren. Männer kommunizieren mit Männern anders als mit Frauen. Bei Frauen ist es umgekehrt genauso. Als ich gemerkt habe, dass ich nicht mehr auf diese männliche Art und Weise kommunizieren konnte, mich nicht mehr als Mann verhalten konnte, wäre es albern gewesen, mich weiterhin als Mann zu verkleiden.

Und vor der Krankheit waren Sie gern ein Mann?

Ich hatte mich nie im falschen Körper gefühlt. Zugegeben, ich war schon immer ein wenig seltsam, ich galt als Exzentriker.

War die Persönlichkeitsveränderung schwierig für Sie?

Ich habe mich nicht damit gequält. Es war einfach so. Plötzlich hatte ich zum Beispiel starke Gefühlsschwankungen. Als ich männlichen Freunden davon erzählte, konnte das keiner einordnen. Aber als ich es Frauen erzählt habe, sagten alle sofort: Das ist PMS! Einmal saß ich im Laden, jemand machte das Radio an, und plötzlich passierte etwas ganz Neues: Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich getanzt. Als ich noch ein Mann war, habe ich mich eher gegen die Musik bewegt. Jetzt bewege ich mich mit der Musik.

Darf man fragen, ob Sie sich einer Operation unterzogen haben?

Das ist eine sehr persönliche Frage, aber ich möchte sie Ihnen genau beantworten. Für manche Menschen, die seit frühestem Alter wissen, dass sie trans sind, ist diese Operation sehr wichtig. Aber bei allem, was ich in den vergangenen Jahren erlebt habe – hormonelle Veränderungen, Veränderungen bei Emotionen und zwischenmenschlichen Beziehungen, die Erfahrung von Frauenfeindlichkeit, das Lesbischsein –, bei alledem bedeutet ein kleines Stück männlicher Anatomie nicht mehr so viel, das psychisch und körperlich für die Rolle als Mann nicht mehr nutzbar ist. Wahrscheinlich werde ich es nächstes Jahr machen, aber so wichtig ist es auch nicht.

Bekommen Sie Hormone verschrieben?

Nein, ich brauche das eigentlich nicht. Ich nehme privat ein wenig ein.

„Also, ich kann auch Deutsch sprechen – wenn man mich dazu zwingt“

Wie haben Freunde und Familie auf Ihre Veränderung reagiert?

Eigentlich ganz okay. Ich glaube, meine Familie hatte sich schon lange gewundert, warum ich immer so komisch war. Jetzt haben sie eben eine Erklärung dafür. Erklärungen tun den Menschen ja gut.

Aber Sie werden auch mit Vorurteilen gegenüber Transsexuellen zu kämpfen haben.

Ja, sogar hier in Kreuzberg, obwohl Großbritannien generell transphober ist, glaube ich. Als ich begriffen habe, dass es absurd wäre, mich länger als Mann zu verkleiden, bin ich zu einer Nachbarin gegangen, die gut Englisch spricht. Ich dachte, sie könne allen anderen Bescheid sagen, was mit mir los ist. Und sie sagte dann, sie sei ein bisschen enttäuscht, dass ich mich nicht noch weiblicher kleiden würde. Manchmal denke ich, die Leute fänden es besser, ich würde mich wie eine glamouröse Trans-Club-Besitzerin anziehen, mit viel Pink und Rosa.

Aber Pink und Rosa liegen Ihnen nicht so.

Nein. Ich ziehe mich ziemlich straight an, oder? Ich habe mich ein bisschen lasern lassen, aber Schminke verwende ich immer noch nicht. Damals, in der Übergangsphase, war ich einfach von einem Tag auf den anderen ein Mann in einem Kleid, der die Bergmannstraße entlanggelaufen ist. Und keiner hat sich beschwert!

Also sind die Kreuzberger doch tolerant!

Berliner sind da insgesamt unglaublich tolerant, weil die Stadt so eine lange Geschichte transsexueller Beziehungen hat. In Berlin wurde die erste Operation zur Geschlechtsumwandlung durchgeführt! In Brandenburg sieht das schon ganz anders aus.

Haben Sie da schlechte Erfahrungen gemacht?

Nicht direkt, aber gehört habe ich viel. Die meisten Trans-Frauen werden mindestens einmal zusammengeschlagen, nachdem sie den Übergang gemacht haben. Ich habe ein kleines Häuschen in Brandenburg, aber seitdem bin ich nicht mehr hingefahren. Einen körperlichen Angriff könnte ich mir nicht leisten, wegen meiner Erkrankung. Zusammengeschlagen zu werden wäre für mich ein Todesurteil.

Erfahren Sie als Frau nun auch Sexismus?

Ja sicher. Mir ist seit der Entscheidung, permanent als Frau zu leben, aufgefallen, wie sexistisch unsere Welt ist. So etwas öffnet einem die Augen. Nur mal als Beispiel: Als ich gerade dabei war, zur Frau zu werden, war ich in einer großen Buchhandlung in Großbritannien. Dort gab es solche Kühlschrankmagneten, mit denen man Sätze bilden kann, und die waren unterschieden in Wörter für Jungen und für Mädchen. Für die Jungen gab es Begriffe wie „Gespenst“, „Affe“, „Auto“, und für Mädchen „Geheimnis“, „Fee“ oder „Pony“. So etwas müsste verboten werden!

Und was ist das Tolle am Frausein?

Männlichkeit baut Gefängnisse um einen herum: Alles muss auf männliche Art und Weise getan werden. Zum Beispiel liegt in jedem Gespräch, das man führt, ein bisschen Angriffslust. Davon fühle ich mich jetzt befreit. Und toll ist auch das Schwesterliche.

Was meinen Sie damit?

Diese schwesterlichen Gefühle zwischen Frauen. Sie wissen, was ich meine? Vielleicht ist es auch etwas Lesbisches. Dafür bin ich sehr dankbar. So etwas gibt es unter Männern einfach nicht.