Lustlose Fans verderben Huren das Geschäft

Kaum Freier, dafür mehr Kontrollen. Prostituierte, Beratungsorganisationen und die Polizei ziehen eine mäßige WM-Bilanz

„Es gibt einen gesellschaftlichen Backlash. Insofern war die WM wenig hilfreich“

Ihr „Germany“-Trikot hat Cindy schon wieder ausgezogen. „Das bringt jetzt auch nichts mehr“, sagt sie resigniert. Vor wenigen Tagen konnte die 19-jährige Prostituierte noch bei den Kunden mit dem sportlichen Look punkten, „besonders vor und nach den Deutschlandspielen“. Doch spätestens seit dem verlorenen Halbfinale am Dienstag herrscht auf dem Straßenstrich Kurfürstenstraße totale Flaute.

Stammkunden und vorbeifahrende Autofahrer pflegten ihre Depression, Lust auf Sex habe niemand, erzählt Cindy. „Es wird Zeit, dass die WM bald vorbei ist“, schimpft sie. Nennenswerte Mehreinnahmen hat ihr das vierwöchige Fußballfest nicht gebracht, die wenigen Touristen seien ausgesprochen geizig gewesen. Jetzt steht Cindy jeden Tag ein bis zwei Stunden länger, von 18 bis vier Uhr morgens, um den Verdienstausfall durch die Halbfinaldepression wieder wettzumachen.

Ihre Kollegin Lisa ist eigentlich ganz zufrieden mit der WM. Sie steht weiter vorne am U-Bahnhof, wo die Preise für die Freier günstiger sind. Ihre Investition in ein knappes „Ballack“-Trikot hat sich gelohnt. „Das kam super an bei den Fans, ich ging keinen Tag unter 300 Euro nach Hause“, sagt die 19-Jährige, die jetzt wieder High Heels und Spitzenkleidchen trägt.

300 Euro sind eine gute Tagesbilanz für den Strich an der Kurfürstenstraße. Er zählt nicht gerade zu Berlins edelsten Prostitutionsadressen. Das Areal rund um den U-Bahnhof Kurfürstenstraße ist säuberlich aufgeteilt zwischen jungen Mädchen wie Cindy und Lisa, Osteuropäerinnen, Farbigen, Transvestiten und Junkies. Die Adresse ist besonders bei Freiern aus Berlin und Deutschland bekannt.

Touristen aus dem Ausland steuern eher den Strich an der Oranienburger Straße an, die in jedem Reiseführer verzeichnet ist. Die Frauen, die dort stehen, sind aufgebretzelter, langbeiniger und gestresster. Die WM-Touristen, die sich um die Flachbildschirme der Straßencafés gruppieren, gucken und fragen viel, für Umsatz sorgen sie aber kaum. WM-Boom? „Jeht so, wa“, winkt eine Berlinerin ab, die mühsam ihren Stammplatz auf dem Bürgersteig gegen den Menschenstrom behauptet.

Die Realität am Bordstein hat wenig mit dem Szenario zu tun, das vor der WM in vielen Medien ausgebreitet wurde: Testosterongesättigte Männerhorden, die Strichs, Bordelle und Privatappartements überschwemmen, Clubbesitzer, die zusätzliche Frauen aus dem Ausland herankarren, manche davon zwangsweise. Der Frauenrat ließ sich sogar dazu hinreißen, von 40.000 erwarteten Zwangsprostituierten zu sprechen – eine Prognose, die er noch vor Anpfiff wieder revidierte. Nach vier Wochen Weltmeisterschaft scheint sich nichts davon bewahrheitet zu haben. Die berüchtigten „Verrichtungsboxen“, in denen bezahlter Geschlechtsverkehr im Fließbandverfahren abgewickelt werden sollte, gibt es nicht. Auch sonst scheint sich die Aufregung nicht bewahrheitet zu haben.

Karoline Leppert vom „Bundesverband Sexueller Dienstleister“, der Bordellbetreiber und Prostituierte vertritt, sagt: „Von einer Prositutionswelle kann überhaupt nicht die Rede sein, im Gegenteil.“ Nur das neu eröffnete Riesenbordell Artemis neben dem Stadion habe gut verdient. „In allen anderen Clubs hat sich der Umsatz bestenfalls gehalten“, so Leppert. Eingeplante Sonderschichten in den Clubs wurden wieder gestrichen, aus anderen Städten angereiste Prostituierte seien schnell wieder abgereist – zu wenig Umsatz. Die Aufregung um WM-Prostitution sei vor allem ein mediales Produkt gewesen, kritisiert Leppert. „Es war dumm, männlichen Fußballfans von vornherein Triebstau zu unterstellen“, sagt sie. „Viele sind vor allem an Fußball interessiert oder mit ihrer Partnerin angereist.“

Auch Nivedita Prasad von „Ban Ying“, einer Beratungs- und Koordinationsstelle gegen Menschenhandel, zieht zum Ende der Weltmeisterschaft eine nüchterne Bilanz: Bei den vier bundesweiten Notrufhotlines für Opfer oder Beobachter von Zwangsprostitution sei ein einziger Anruf eingegangen. Auch das Landeskriminalamt, mit dem „Ban Ying“ eng zusammenarbeitet, habe nichts gemeldet. „Die Debatte um Zwangsprostitution löste eine bundesweite Welle von Polizeirazzien aus“, fasst Nivedita Prasad zusammen. „Zwangsprostituierte fand man keine, doch dafür illegale Migrantinnen, die verhaftet wurden.“

Eine Sprecherin der Berliner Polizei hingegen betont, man habe trotz verstärkter Kontrollen nicht mehr Frauen ohne Papiere aufgegriffen als sonst. Ob die Frauen, die jetzt in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden, auf eigene Rechnung arbeiten oder Opfer von Menschenhändlern sind, ist schwer zu sagen. Doch sie sind Opfer einer Debatte, die eine merkwürdige Dynamik entfaltet hat.

Konservative Kräfte, denen die freie Ausübung von Prostitution aus moralischen Gründen ein Dorn im Auge ist, konnten die öffentliche Aufregung erfolgreich für ihre Zwecke nutzen, so sehen es jedenfalls Nivedita Prasad und Karolina Leppert. Dass Berlin als Stadt ohne Sperrbezirk wochenlang im Fokus der Aufmerksamkeit stand, hat den Betroffenen eher geschadet, darin stimmen die Beraterinnen überein. „Es gibt einen gesellschaftlichen Backlash“, beobachtet Nivedita Prasad. „Statt die Bedingungen für Prostituierte zu verbessern, wird die bereits erreichte Liberalisierung in Frage gestellt. Insofern war die WM wenig hilfreich.“

Cindy von der Kurfürstenstraße hat da ihre ganz eigene Theorie, die bei vielen ihrer Kunden auf Zustimmung stoßen dürfte: „Wenn die Italiener den Frings nicht rausgekickt hätten, wäre jetzt alles anders: Dann hätten die gewonnen, und für mich hätte es eine richtig tolle WM werden können.“ Nina Apin