berliner szenen Leiden an der FU

Asbest ist schlecht

Müde schlurfte der Dozent durch den Flur der Rostlaube. Fünfundfünfzig Hausarbeiten waren heute zu bewerten. Ihm graute vor seinem Pensum: „Lesen ist schrecklich!“ Er schleppte sich die Rollstuhlfahrerrampe hinauf und schwenkte in den Gang zu seinem Büro ein. „Dieser muffige Geruch“, dachte er, „der mich mittlerweile bis in den Schlaf verfolgt.“ Aber: Konnte man Gerüche überhaupt träumen?

Vor vielen Jahren hatte man in diesem abstoßenden Gebäude begonnen, die Asbestsanierung voranzutreiben – was nichts daran geändert hatte, dass bereits verschiedene Professoren an Krebs gestorben waren.

Der Dozent versuchte, diesen lästigen Gedanken zu verscheuchen, als er die Zimmertür zeitlupig hinter sich schloss. Er setzte sich langsam an den Schreibtisch, auf dem sich Korrekturarbeiten türmten.

Jetzt stöhnte er leise auf. Denn es war ja klar, dass er wieder kaum zu Rande kommen sollte. Wie immer würde ihn dieser brennende Durst plagen: Bevor er auch nur ein, zwei Sätze gelesen haben werde, würde er auch schon wieder zur Wasserflasche greifen müssen, wusste er. Ergo werde er außerdem andauernd aufzuspringen haben, um die Pulle am schäbigen Waschbecken seines schwülen Büros mit fadem Leitungswasser zu füllen. Dann wiederum würde ihn im Viertelstundentakt der Harndrang ereilen, der ihn hinaustrieb zur Toilette – und so fort.

Sollte er aber endlich einmal in einen Lesefluss gefunden haben, so würde es bestimmt an seiner Tür klopfen oder eine irritierende Mail des Dekanats würde auf seinem PC-Bildschirm aufblinken! Matt griff der Dozent zur ersten Arbeit und im selben Moment begann irgendwo eine Bohrmaschine zu arbeiten.

JAN SÜSELBECK