Nordstaat ist Mordstaat

DENKER Mit dem Österreicher Leopold Kohr präsentiert das Haus der Wissenschaft einen Wirtschaftsphilosophen, der gut in den Kleinstaat Bremen zu passen scheint

Der Andorra- und San Marino-Fan Kohr liefert den Bremern moralisches Rüstzeug

VON HENNING BLEYL

Für Dieter Senghaas ist Leopold Kohr ein Vordenker der Bremer Selbständigkeit. Der profilierte Bremer Friedens- und Konfliktforscher setzt sich seit langem intensiv mit den Theorien des Österreichers auseinander, dem derzeit im Haus der Wissenschaft eine Ausstellung gewidmet ist.

Unter dem Titel „Kleinstaaten als Rettung“ referierte Senghaas 1965 in der Frankfurter Allgemeinen über Kohrs Zerstückelungs-Theorie, derzufolge nur die Existenz gleich großer Kleinstaaten Frieden schaffen könne. Auch die wirtschaftlichen Produktivkräfte sah Kohr schwinden, wenn zu große Einheiten gebildet werden: „Alles, was dann an Produktivität gewonnen wird, muss dazu verwendet werden, den Staat vor dem Zusammenbruch zu bewahren.“

Solche ökonomischen Einsichten eines Mannes, der in Nachschlagewerken als Anarchist bezeichnet wird, sind derzeit bei den „Salzburg-Tagen“ in Bremen zu hören. Ad hoc könnte man meinen, die Veranstaltungsreihe diene dem üblichen Mix von Tourismuswerbung und Wirtschaftsanbandelungen, garniert mit Kultur. Tatsächlich steht jedoch Kohr im Mittelpunkt. Wenn am 19. Juli der stellvertretende Landeshauptmann vorbeischaut – immerhin während der Salzburger Festspiele! – gibt es selbstverständlich schon einen Empfang „für interessierte Bremer Unternehmer“. Und ob alle Beteiligten dabei von den ökonomischen Maximen Kohrs ausgehen, weiß man nicht.

Dann nämlich müssten sie globalisierte Märkte und das Primat des Wachstums als Folge einer verhängnisvollen Dynamik begreifen, die Kohr nicht zuletzt per Rückgriff auf Paracelsus kritisierte. Dessen toxikologische Erkenntnis, die Verträglichkeit eines Stoffes hänge von der Dosis ab, übernahm er als soziale und wirtschaftliche Kategorie. Diesbezüglich kann die Ausstellung auf bemerkenswerte Sponsoren verweisen: etwa Bremens Kaufmännischen Verein „Union von 1801“ und die Bremer Landesbank. Deren Chefanalyst Folker Hellmeyer fällt immer wieder mit anti-zentralistischen Thesen etwa in Bezug auf Rating-Agenturen auf. Die Bremer Sparkasse ist diesmal nicht beteiligt, lud aber bereits im vergangenen Jahr zu einer Diskussion über Kohrs „Lehre vom rechten Maß“ ins Finanzzentrum am Brill ein. Wer Kohrs Thesen, aus denen sein Schüler Friedrich Schumacher den bekannten Slogan „Small is beautiful“ destillierte, für zutreffend hält, darf freilich auch künftig nicht mit der Hamburger Sparkasse fusionieren wollen.

Während Kohr, ein typischer Mittelschichts-Theoretiker, auf der politischen Ebene in Bremen einigermaßen offene Türen einrennt – nur wenige wollen die Eingliederung Bremens in einen Nordstaat – sind seine ökonomischen Präambeln sicher noch nicht mehrheitsfähig: „Alles was falsch ist, ist zu groß“, lautet eine seiner Kernsätze. In seiner Salzburger Heimat hat Kohr es beispielsweise geschafft, die Pingauer Bauern zum Widerstand gegen die Übernahme ihrer genossenschaftlichen Molkerei durch ein Großunternehmen zu motivieren. Auch die wiedergewonnene Vielfalt der regionalen Käsesorten und anderer Produkte, um die sich die rührige Leopold-Kohr-Akademie und der von ihr gegründete Verein „Tauriska“ seit 24 Jahren verdient gemacht hat, ist nicht zu verachten.

Für Senghaas stellt sich freilich die Frage, ob Kohrs Ansatz in einem kapitalistischen, auf stetigen Steigerungsraten basierendem System funktionieren kann – sozusagen über den Käsemarkt hinaus. Kohr selbst beantwortete die Frage deutlich: Der Kapitalismus sei nicht aus sich selbst heraus zu reformieren. 1983, elf Jahre vor seinem Tod, bekam er für derartige Einsichten den Alternativen Nobelpreis verliehen.

Praktische Erfahrungen mit seinen Theorien sammelte Kohr in so verschiedenen Weltgegenden wie Wales und auf der Karibik-Insel Anguilla. An der Universität des relativ nahe gelegenen Puerto Rico war Kohr 20 Jahre Ordinarius für Ökonomie und Verwaltungswissenschaften – als sich das kleine Anguilla 1967 verselbständigte, war er sofort mit Rat und Tat zur Stelle. Allerdings wurde das erfolgreiche Experiment nach zwei Jahren von britischen Fallschirmjägern beendet.

Derartiges ist in Bremen zwar nicht zu erwarten. Aber süddeutsche Ministerpräsidenten pflegen durchaus Gewehr bei Fuß zu stehen, wenn es um die mögliche Neugliederung der Länder zu größeren Gebilden geht. Nun können die Bremer ihr moralisches Rüstzeug beim Andorra- und San Marino-Fan Leopold Kohr aufbessern. Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) jedenfalls ist der Meinung, Kohrs Lehre vom menschlichen Maß „passt wunderbar zu Bremen“.

Programm der Salzburg-Tage im Internet: www.leopold-kohr.at/termine