Leben auf der Rückseite

Ein Höhepunkt früher Großstadtliteratur: Ralf Thies’ Untersuchung „Ethnograph des dunklen Berlin“ ist Hans Ostwald (1873–1940) und dessen Edition der „Großstadt-Dokumente“ gewidmet

VON MICHAEL RUTSCHKY

Dies ist eine traurige Geschichte. Hans Ostwald (1873–1940) endet als Nazi – nun ja, das bleibt unklar, ob er wirklich im Innern einer war. Die plötzliche Begeisterung für den deutschen Bauern, wie ihm der Führer Brot und Ehre zurückerstattet habe, könnte sich auch der kulturindustriellen Wendigkeit verdanken, die Ostwald während seiner ganzen Karriere zeigte. Jedenfalls kommen ihm die Nazis bald drauf und beenden die Bauernfeier des frisch gebackenen Proselyten: Sie strichen seine Credits für den Prachtband „Deutsches Bauerntum. Sein Werden, Niedergang und Aufstieg“ (1935) und stellten ihn kalt.

Sie kamen Hans Ostwald drauf, dass er am Anfang des Jahrhunderts einer der produktivsten Großstadtliteraten gewesen war, der das Kaiserreich über seine Abgründe aufklärte, Sex & Crime ebenso wie das Elend der Underclass, der Bettler und Landstreicher, der Knechte und Mägde auf den ostelbischen Gütern. Nach einer Goldschmiedlehre war er auf Wanderschaft gegangen und hat später immer wieder undercover in den entsprechenden Milieus recherchiert. Bei aller Einsicht in die sozialen und ökonomischen Ursachen des Elends, die Ostwald in seinen Skizzen und Reportagen für eine Vielzahl von Zeitungen herausstellte, er scheint einen Sinn für das Romantische der Wanderlust und des Lebens auf der Rückseite bewahrt zu haben, das sein Publikum goutierte.

Einsicht und Romantik

Dieser Sinn leitete ihn ebenso bei dem großen Projekt, dem Ralf Thies jetzt eine Untersuchung gewidmet hat: „Großstadt-Dokumente“ hieß eine Reihe von 50 dicken Heften, die Ostwald zwischen 1904 und 1908 herausgab und von denen er einige selber schrieb. (Unter seinen Koautoren finden sich bekannt gebliebene Namen wie Julius Bab, Magnus Hirschfeld, Felix Salten – dem wir, neben Bambi, Josefine Mutzenbacher verdanken).

Das Romantische der großen Stadt, wie sie – die große Stadt – sich unwiderstehlich bildete gegen alle Klagen, Mahnungen und Einwände der konservativen Kulturkritik, haftete an den neuen Formen von Konsum und Kommerz. Unter den „Großstadt-Dokumenten“ finden sich Bände über die Tanzlokale und die Konfektion, die Banken und die Beamten und den Sport. Vor allem aber haftete das Romantische an dem, was damals Laster hieß, an den Schwulen und Lesben, den Prostituierten und den Zuhältern (denen Ostwald eine eigentümliche Sympathie entgegenbrachte). Die Leser durften sich zugleich sozial erschüttert und sexuell stimuliert fühlen.

Die Schreibweisen gehen, wie Ralf Thies demonstriert, auf den literarischen Naturalismus zurück, wie er eben en vogue gewesen war, der anstoßerregende Blick von unten nach oben. Es bedurfte keiner besonderen dokumentarischen Finessen – Tonbandgeräte gab’s noch nicht –, es genügte, wenn in den Beschreibungen Worte und Figuren und Szenen vorkamen, die in der offiziellen Selbstdarstellung des Reiches fehlten, womöglich wegen Obszönität oder Majestätsbeleidigung verboten waren. So ernteten die „Großstadt-Dokumente“ wegen ihres Sachgehalts das Lob von Wissenschaftlern – aber Hirschfelds Schrift über Berlins „Drittes Geschlecht“ funktionierte zugleich als schwuler Stadtführer, und auch den Bänden über Cafés und Theater und Clubs konnten Interessenten praktische Hinweise entnehmen. Als eine Art Triumph auf dem Feld der Wissenschaft verzeichnet Ralf Thies, dass 1914 die Serie von der University of Chicago angeschafft wurde, wo wenig später die bedeutendste Schule der Stadtsoziologie entstand.

Ja, und 1907 scheint Hans Ostwald, bislang rastlos tätig als Reporter und publizistischer Organisator, so etwas wie einen Nervenzusammenbruch erlitten zu haben. Er zog sich nach Zehlendorf zurück und fand ein neues Spezialgebiet in besinnlichen Sittenbildern, in der Alt-Berlin-Folklore, aus anderen Büchern dieser Richtung, die seit langem existierte, umsichtig und fleißig kompiliert. 1910 begann eine kuriose Episode als Sozialreformer: Ostwald engagierte sich in einem Verein, der Arbeitslose zur Kultivierung brachliegender Ländereien des Reichs erziehen sollte. Sein Kompagnon war ein rechtskonservativer Junker mit dem sprechenden Namen Axel von Kaphengst-Kohlow. Ostwald führte den Verein hartnäckig in den Bankrott. Im Ersten Weltkrieg war er als Kriegspropagandist tätig, dann engagierte er sich als Propagandist der Republik, vergeblich auf eine Stelle im Regierungsapparat hoffend.

Die verlorene Schärfe

So kam er auf seine Prachtbücher mit Alt-Berlin-Folklore zurück, aus Quellenschriften collagiert und schön bebildert. Veröffentlichungen über Berliner Witze und den Berliner Dialekt verschafften ihm den Beinamen des „Urberliners“. Er machte sich für den noch keineswegs einhellig anerkannten Heinrich Zille stark (der, laut Adorno, dem Elend auf den Popo klopfte mit seinen Cartoons) und erreichte mit den Büchern hohe Auflagen. Aber dies alles, wie Ralf Thies immer wieder verhalten traurig bemerkt, viel zu launig und nostalgisch und ohne die Entdeckerlust und Schärfe der Frühzeit. Die junge Hure war unwiederbringlich zur alten Betschwester geworden. Und dann kamen die Nazis, und Ostwald starb, von ihrer Nichtanerkennung enttäuscht, mit 67 an einem Herzinfarkt.

Ralf Thies’ Untersuchung muss jeden beschäftigen, der sich für Berlinographie interessiert und/oder an Berlinophilie leidet; darüber hinaus wärmt sie durch heroische Erinnerungen an die Zeit, als die große Stadt und die moderne Welt im Aufbruch waren. Thies’ Dissertation, aus der das Buch hervorging, muss schon sehr gut lesbar und umsichtig informativ gewesen sein – oder er hat sie exquisit redigiert.

Ralf Thies: „Ethnograph des dunklen Berlin. Hans Ostwald und die ‚Großstadt-Dokumente‘ (1904–1908)“. Böhlau, Köln 2006, 345 Seiten, 39,90 Euro