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: Das Risiko zahlt sich aus

Alle gucken Fußball. Auch die taz. Bis zum Ende der WM berichten wir täglich live von den Berliner Spielplätzen. Heute: Ein Auftritt der Deutschen beim Inder um die Ecke in Kreuzberg.

Ein feiner Sitzplatz im Freien, mit gutem Blick aufs Geschehen und kühlem Bier noch kurz vor dem Anpfiff? Speziell bei den Spielen der deutschen Mannschaft hat man da schnell mal ein Problem – die gängigen Adressen fallen in diesem Falle flach. Oft bleiben nur noch die zahllosen kleinen Schlachtfelder des Open Glotzings, wie so mancher Döner-Imbiss mit seinen fein säuberlichen Stuhlreihen, einem Straßentheater gleich. Oder der Inder umme Ecke.

Der sonst so verschlafene Currydealer hat sein Personal verzehnfacht. An der Straßenecke lugt waghalsig von einem kleinen Tisch, der wiederum in buddhistischer Schicksalsauffassung auf einem kaum größeren balanciert, einer dieser brandneuen, unvermeidlichen Flachbildschirme. Eine wacklige Angelegenheit. Doch das Risiko zahlt sich aus.

Die Bierbänke auf dem Bürgersteig füllen sich auch noch lange nach Beginn des Spiels. Zwischendurch werden Stühle aus dem Lokal getragen, Autos ausgeparkt, irgendwohin quer auf die Straße gefahren und auf die frei werdenden Parkplätze noch mehr Stühle und Bänke gestellt. Der Biernachschub funktioniert reibungslos, es gibt sogar warmes Essen.

Auf den nicht abreißenden Andrang wird schnell reagiert: Mittels weiterer Sitzgelegenheiten wird das Lokal quasi auf die gesamte Länge des Blocks ausgedehnt, ein zweiter, älterer, Fernseher herbeigeschafft und auf einen Postkasten gestellt – noch vor einer Woche hätte sich niemand auch nur im Traum die behäbige alte Tante Reichspost AG als so ein bereitwillig buntes Element eines fröhlich improvisierten Ensembles vorstellen können.

Kreatives Chaos im Dschungel Deutschland!

Von oben wird aus einer Privatwohnung im ersten Stock ein Kabelanschluss abgeseilt. Rührige Fachleute aus Familie, Nachbarschaft oder sonstwo her stöpseln acht Mehrfachsteckdosen hintereinander und in die Kabeltrommel, in der bereits der andere Empfänger steckt.

Eckball Deutschland, ein Raunen geht durch die Menge – der Bildschirm wird dunkel. Stromausfall in Obervolta! Bange Hilferufe werden laut nach dem Kernpersonal, das sich erst aus der amorphen Masse der zahllosen minder qualifizierten Hilfskräfte schälen muss und nun zum Ort des Unglücks eilt. Allgemeines Aufatmen – das Bild ist wieder da.

„Meine Damen und Herren – inzwischen steht es vier zu vier“, schnarrt ein Witzbold. Keiner lacht – das geschieht mir recht.

Auch in der zweiten Halbzeit werden noch immer wie von einer emsigen Ameisenarmee ununterbrochen Stühle aus dem Gastraum nach draußen geschleppt. Hinten muss es eine Tür geben, die auf einen Hof führt, der direkt an ein riesiges Stuhllager grenzt, das wiederum selber eine Hintertür hat, die mit einem weiteren Hof verbunden ist, der zu einer Stuhlfabrik gehört. Die vom Inder annektierte Fläche dürfte so langsam die Stadtgrenze erreichen. So manche Ameise ist vermutlich gar kein Gast, sondern läuft einfach weiter, die Ameisenstraße entlang und in ihren Bau, um dort gratis ihre Wohnung zu möblieren.

Wenn Deutschland gewinnt, schleppt der Inder, der in Wahrheit Pakistani ist, mehrere Kisten Freibier auf die Straße und verteilt sie an die Gäste. Eine feine Sache: das Gucken beim Inder umme Ecke. Deshalb verrate ich auch nicht, wo. War ohnehin schon voll genug.

Uli Hannemann

Inder umme Ecke: An fast jeder Ecke der Stadt und dann einmal rum. Große Karte. Immer offen. Immer gucken. Großer Fernseher auf der Tischpyramide, bei Spitzenspielen zusätzlich kleiner auf dem Briefkasten. Eintritt frei