the hamburg-eppendorf-rentner-robber von HARTMUT EL KURDI
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Dietmars geschiedener Vater lebte in Hamburg, in einer gut situierten WG, in der die Ermordung der RAF-Gefangenen in Stammheim als Tatsache galt, die Bewohner abends peinlich zu alten Stones-Platten tanzten und hin und wieder im Rotwein-Rausch sogar ihre Partner tauschten. In Dietmars und meiner kleinen Heimatstadt gab es 1979 kein solches gesetztes linksradikales Bildungsbürgertum. Bei uns gab es nur SPD-Spießer, ein paar irre KBW-Studenten und die üblichen, nach Verwesung riechenden DKPisten. Die besagte Altbauwohnung in Eppendorf erschien uns naiven Neohippie-Teens somit wie eine aufregende Parallelwelt, in die wir so oft wie möglich per Daumen-Lift flüchteten. Vor allem weil wir dort machen konnten, was wir wollten. Oft fielen wir zu zehnt ein und genossen tagelang die entspannt antiautoritäre Atmosphäre, in der niemand fragte, wann wir denn nach Hause kämen, was dieser „Grünspan“ für ein Laden sei und was da schon wieder so komisch rieche.

Bevor wir abends ausgingen, kochten wir meistens. Das, was Halbwüchsige immer kochen, wenn sie was kochen: Spaghetti Bolognese. Irgendwann war auch ich dran, den dafür benötigten Klumpen Mett und die Zweiliterflaschen Fuselwein zu besorgen. Es war kurz vor Feierabend, der Supermarkt war voll, und so stand ich schließlich in einer scheinbar endlosen Kassenschlange.

Nach gefühlten zwanzig Minuten war ich auf Platz drei vorgerückt, da sah ich auf dem Boden etwas liegen. Es war blau, es war flach und weckte meine Gier: ein Hundertmarkschein. Ich blickte mich um. Hatte noch jemand den Schein gesehen? Ich bückte mich, tat so, als ob ich mir die Schuhe zubinden müsste – und steckte das Geld ein. Ich dachte keinen Moment darüber nach, wem es gehören könnte. Bis die tattrige Rentnerin vor mir ihre Tüte H-Milch, den Beutel Kartoffeln und das abgepackte Scheibenbrot bezahlen wollte. „Das gibt’s nicht“, stammelte sie verwirrt, „ich war doch grad auf der Bank – wo ist denn der Hundertmarkschein?“ Ich begann zu schwitzen. Nein, das musste ein anderer Hunderter sein, beschwichtigte ich mich. Die Oma würde ihren ja ganz bestimmt gleich finden …

Die Kassiererin war erst mäßig freundlich, wurde dann sichtbar ungeduldig, und schließlich bedeutete sie der jammernden alten Dame kalt, sie solle die Waren zurückbringen. Und ich Sau stand daneben und sagte nichts. Vielleicht weil ich Angst hatte, als Dieb enttarnt zu werden, vielleicht auch weil ich das Geld einfach nicht wieder hergeben wollte. Als die Oma gegangen war, bezahlte ich und flüchtete in die Wohnung von Dietmars Vater. Dort saß ich zwei Stunden auf dem Klo, starrte den Hunni an und beschloss endlich doch, mich am nächsten Tag auf die Suche nach meinem Opfer zu begeben und ihr das Geld zurückzugeben. Dann zog ich mit meinen Freunden los.

Als ich am nächsten Tag aufwachte, war das Geld weg. Und mein schlechtes Gewissen auch. Zumindest fast. Ich hatte also die grundlegende, charakterbildende Erfahrung des Gewohnheitsverbrechers gemacht: Skrupel sind relativ. Warum ich nicht sofort eine Bank überfiel und Geiseln nahm, kann ich allerdings bis heute nicht erklären.