„Der Lehrer muss seine Kinder kennen“

RECHTSCHREIBUNG Damit Schüler richtig schreiben lernen, brauchen Pädagogen diagnostische Fähigkeiten, sagt der Schulforscher Peter May. Deshalb sei Weiterbildung wichtiger als der Streit um die richtige Lernmethode

■ 65, promovierter Lehrer und Psychologe, unterrichtete in Haupt- und Realschulklassen, war lange Jahre Schulpsychologe, danach Hochschulassistent. Seit 2002 im Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung als Leiter des Referats „Testentwicklung und Diagnostik“.

INTERVIEW KAIJA KUTTER

taz: Herr May, stimmt es, dass Sie die aktuelle Debatte um die richtige Lernmethode zur Rechtschreibung geärgert hat?

Peter May: Ja. Es gibt kaum einen Bereich, in dem so viel Blödsinn geredet wird wie bei der Rechtschreibung. Menschen, die keine Ahnung haben, schwingen sich auf zu Kronzeugen für einen angeblichen Kulturverfall.

Aber Sie haben Ahnung. Haben vor 15 Jahren mit der „Hamburger Schreibprobe“ einen Test entwickelt, der seither regelmäßig angewendet wird. Welche Erkenntnisse haben Sie damit gewonnen?

Ich habe schon in den 90er-Jahren Zusammenhänge zwischen Unterrichtsmerkmalen und Lernerfolg festgestellt, die jetzt durch die aktuelle Studie von John Hattie auf breiter Basis bestätigt wurden. Es ist nämlich relativ egal, mit welcher Methode Kinder unterrichtet werden. Wichtig ist, dass die Lehrkraft eine fundierte Vorstellung hat von dem Gegenstand, den sie unterrichtet – dass sie weiß, wie Kinder lernen, und muss ihre Kinder gut kennen. Entscheidend ist, dass im Unterricht eine Interaktion stattfindet, bei der die Kinder solche Hinweise bekommen,die sie brauchen. Und dabei ist es weitgehend egal, ob sie nun Frontalunterricht machen oder Gruppenarbeit, ob die Kinder mit der Fibel lesen lernen oder durch die Methode „Lesen durch Schreiben“.

Die CDU in Hamburg fordert, Lesen durch Schreiben zu verbieten.

Der Streit erinnert mich an die Fibeldebatte der 1960er-Jahre, die ziemlich fruchtlos ausging. Rechtschreiblernen ist ein Prozess, bei dem Kinder über viele Jahre Unterstützung brauchen. Man kann den Kindern auch mit der Fibel Rechtschreibung beibringen. Es macht den meisten Kindern allerdings weniger Spaß.

Für Kinder aus schriftfernen Familien ist es jedoch übersichtlicher, denn das eigenständige Lernen mit einer Anlauttabelle ist nämlich sehr voraussetzungsreich. Kinder müssen dafür schon eine phonologische Bewusstheit haben, eine Vorstellung davon, dass beim Sprechen Laute erzeugt werden, die man mit Buchstaben lesbar machen kann. Man muss sich klar sein: Kinder aus schriftfernen Milieus haben oft noch keine Vorstellung davon, dass ihre Sprache nicht nur ein Geräusch ist, sondern sich aus einzelnen Lauten zusammensetzt. Diese Bewusstheit braucht man aber, um die Laute in Schrift zu übertragen.

Was raten Sie in solchen Fällen?

Der Lehrer muss diese phonologische Bewusstheit gegebenenfalls erst einmal herstellen. Das sollte eigentlich schon im Kindergarten erfolgen, zum Beispiel durch Reime, Klatsch- oder Sprachspiele. Wichtig dabei ist, dass die Pädagogen eine diagnostische Kompetenz haben, mit der sie die Voraussetzungen der Kinder erkennen.

Das hört sich so an, als ob die Methode „Lesen durch Schreiben“ nicht mehr angebracht ist.

Doch. Der Erfinder Jürgen Reichen hat es in der Anfangsphase überzogen, indem er sagte, der Lehrer soll nicht mehr Unterrichtender, sondern nur noch Coach der Kinder sein. Da hat es ja in den 70er- und 80er-Jahren eine richtige Kulturrevolution an den Grundschulen gegeben. Danach haben sehr viele Lehrer mit Reichen gearbeitet – das hat sich zwischenzeitlich längst geändert. Allgemeiner Konsens ist jedoch heute noch, dass die Kinder möglichst früh selbstständig lernen sollen und dass es besser ist, den Kindern in der Anfangsphase zu erlauben, orthografisch noch unkorrekt zu schreiben.

Das Wort Fahrrad zum Beispiel hat vier Klippen, die es zu erlernen gibt. Kinder schreiben zunächst „Farat“, bevor sie lernen, dass es am Ende ein „d“ gibt, nach dem ersten „a“ ein „h“ und in der Mitte ein zweites „r“. Wenn Kinder erste Wörter oder Sätze schreiben, sollte man Farat erlauben, sonst verpufft schnell die Motivation. Gleichzeitig sollen die Kinder jedoch immer erfahren, wie die Wörter richtig geschrieben werden, und diese auch bald einüben. Die Lehrer müssen den Schülern also früh verdeutlichen, dass die Normschreibung wichtig ist für die eindeutige und schnelle Kommunikation mit dem Leser.

Schreiben die Kinder heute schlechter als früher?

Wir messen seit 1994 mit der Hamburger Schreibprobe. Bis 2001 hat es eine Verschlechterung gegeben. Seit Pisa gab es in den Tests keine Verschlechterung mehr, und in der Grundschule sogar eine leichte Verbesserung. Für Hamburg muss man sagen, dass der Anteil der Schulanfänger mit nichtdeutscher Muttersprache in zehn Jahren von unter 40 Prozent auf über 50 Prozent gestiegen ist. Wenn dann die Rechtschreibleistungen insgesamt gleich bleiben, heißt das, dass die Bemühungen der Schule greifen.

Also kann es bleiben wie es ist?

Nein. Es ist ein Skandal, dass immer noch ein Fünftel der Schüler am Ende von Klasse 9 schlechter lesen und schreiben kann als der Durchschnitt am Ende der Grundschulzeit. Aber dafür müssen wir nicht den Anfangsunterricht verändern. Schüler müssen in ihrer Rechtschreibung kontinuierlich auch in den höheren Klassen gefördert werden. Dafür gibt es in den Stundenplänen allerdings zu wenig Zeit.

Wie hilft dabei Ihre „Hamburger Schreibprobe“?

Die „Hamburger Schreibprobe“ ist ein Rechtschreibtest für die Klassen 1 bis 10. Sie umfasst ein kurzes Wortdiktat und ein Satzdiktat, an dem die Lehrer sehen können, welche Strategien die Kinder beim Schreiben bereits beherrschen und welche nicht – ob sie zum Beispiel schon Laute in Buchstabenfolgen übertragen, Rechtschreibregeln anwenden oder ableiten können. Mit Hilfe dieser Diagnostik kann man gezielt fördern, auch in höheren Klassen.

Sind die heutigen Lehrer richtig ausgebildet, um das anzuwenden?

Bei Lehramtsstudenten, die das Fach Deutsch studieren, kann man davon ausgehen, dass sie gut vorbereitet sind. Anders ist es bei Lehrern, die Deutsch fachfremd unterrichten.

Also brauchen wir mehr Weiterbildung in diesem Sektor?

Es scheint mir das Feld zu sein, auf dem man viel mehr erreichen kann als beim Streit um methodische Details im Anfangsunterricht. Wenn man die Rechtschreibleistung verbessern will, sollte man vor allem in die Fortbildung investieren.

Und wie wichtig sind Sprachförderung und kleine Klassen?

Gezielte Sprachförderung ist sehr wichtig. Hier müssen wir darauf achten, dass sie auch weiterhin bei den förderbedürftigen Kindern ankommt. Die Klassen sind bei uns heute eigentlich klein genug. Wichtig ist, dass Lehrer den Unterricht so organisieren, dass sie sich um die schwachen Lerner kümmern können.