Prophetie vom Dach

Umherschweifende Blicke auf das, was kommen könnte

Wir Querschnittsredakteure haben es nicht leicht. Denn wir haben keinen Gebietsschutz. Wir werden gezwungen, über alles zu quatschen. Man erwartet von uns, bei allem mitzureden, immer einen geistreichen Gedanken zu haben, einen brillanten Einfall, eine gescheite Idee, einen anderen Zugang, einen superlustigen noch dazu. Und also plappern und plaudern wir den ganzen Tag, die ganze Woche, von morgens bis abends, mit jedem und allem, auf den Konferenzen, den Sitzungen, am Telefon, per Mail, im Chat oder über Twitter. Aber entscheiden dürfen wir nichts. Bevor wir irgendetwas machen, müssen wir immer erst mal die Experten fragen. Und weil uns die Expertenmeinung oft zu expertenmeinungsmäßig ist, steigen wir sommers wie winters über die Wendeltreppe hinauf in den Pavillon, und von dort treten wir auf die Dachterrasse. Da oben, unter dem großen freien Himmel, atmen wir tief durch, lassen die Blicke schweifen und die Gedanken baumeln und machen uns so unsere Vorstellungen. Vorstellungen von einer Welt ohne Expertenmeinung. Sommers sitzen wir auf dem sattgrünen Rasen, lesen Rilke, binden Blumenkränze, stricken Mützen, rauchen Haschisch, trinken Pfannebecker und herzen uns. Aber mit Liebe, nicht so wie Rösler, als er noch Minister, und Diekmann, als er noch hauptamtlicher Nerd war. Unsere von Expertentum befreiten Blicke bleiben an Axel Springers Riesenlaufband hängen. Wie das funkelt, blinkt und pulsiert! Da müssen echte Kreative am Werk sein. Da kann unsere Dachbepflanzung nicht mithalten. Auf unserem Dach wehen Fahnen, sodass man meinen könnte, hier wehte ein frischer Geist. Auf Springers Dach hingegen flackert die Weltgeschichte von Spandau bis Teltow, sodass man meinen könnte, es passierte was im Land. Diese Quelle informativer Unterhaltung ist fast so breit wie das Haus, auf dem sie thront, und als „Laufband“ nur unkorrekt beschrieben. Es ist eine Reklametafel, die aus vielen großen Pixeln besteht, die unterschiedliche Farben annehmen können, wenn sie nicht gerade kaputt sind. Wir hier auf dem Rasen zwischen Rilke, Haschisch und frei schweifendem Umherdenken finden das gut, der psychedelischen Effekte wegen. Springer strebt nach Start-up-Tugenden, sagen die Experten. Wir aber sehen, dass sich beim Content seit 1967 so viel nicht geändert hat. „Chaoten werfen Pflastersteine auf SPD-Zentrale“, heißt es auf Springers Display. Die Veränderungen kündigen sich unten an. Immer häufiger sehen wir sehr bärtige Männer in Kapuzenpullis auf Skateboards durch die Rudi-Dutschke-Straße Richtung Springer-Zentrale rollen, solchermaßen stumm den Spirit ...