ÜBERLEGUNGEN ANLÄSSLICH DER ALTARBESTEIGUNG VON KÖLN
: Berlin, mittelalterfreie Zone

VON CLAUDIUS PRÖSSER

Man muss sich die meisten Besucher des Weihnachtshochamts im Kölner Dom als zufriedene Menschen vorstellen. Hätte sich da nicht mitten in der Zelebration diese für die Jahreszeit gänzlich unpassend gekleidete Frau auf den Altar geschwungen (Hut ab vor solch behendem Sprung!), die Messe wäre genauso zermürbend geworden wie immer – zerdehnte Zeit, ein Spannungsbogen wie aus Granit, mumienhaft agierendes Personal. So aber gab’s was zu sehen, zu bezischen, zu beraunen und – als der Kardinal wieder das Heft in der Hand hatte – sogar zu beklatschen. Auch für Zuhause war noch jede Menge Gesprächsstoff übrig!

Der Beobachter im fernen Berlin sieht es, nun ja, mit ein wenig Neid. Denn seien wir ehrlich: Wäre ein Dramolett mit solch archaischer Bildsprache – Mittelalter! Hexen! Inquisition! – in der Hauptstadt vorstellbar? Wohl kaum: Dazu ist man an der Spree in Glaubensdingen viel zu wenig bewandert. Es fängt schon damit an, dass Gotik hierzulande Mangelware ist. In den überschaubaren Relikten befinden sich Museen, oder sie werden von toleranten Protestanten gegen den Strich ihrer weltentsagenden Symbolik gebürstet. Da fehlt von vornherein die Fallhöhe. Und die Berliner Katholiken? Sind im Großen und Ganzen eher zivile Menschen. In der Hedwigskathedrale gibt’s keine Rausschmeißer in Soutane wie in Köln und es riecht nicht so streng nach Weihrauch.

Weichgespült statt reaktionär

Auch im Archiv des endenden Jahres sucht man vergebens nach provokanten Duftmarken, die die römische Kirche hinterlassen hat. Am Rhein war bislang immer Verlass auf die reaktionären Ausfälle eines Joachim Meisner, aber sein Amtskollege an der Spree ist – zumindest nach außen – von der weichgespülten Sorte. Einer der anlässlich der Berlinale sagt: „Jesus wäre bestimmt gern ins Kino gegangen.“ Einer der den Rücktritt des alten Papstes genauso pflichtschuldig bedauerte, wie er den Antritt des neuen begrüßte. Einer, der auch den Flüchtlingen vom Oranienplatz schon mal eine helfende Hand reichen lässt.

Was ja auch gut so ist. Nur, den richtigen vatikanischen Kitzel verspricht dieses Setting genauso wenig wie ein öffentlichkeitswirksames Aufbegehren dagegen. An welcher Symbolik sollte man sich auch reiben? Wenn der argentinische Armen-Papst (dessen Wahl aus den Reihen der Purpurträger tatsächlich an ein Wunder grenzte) dem in Prunk und Behäbigkeit erstarrten deutschen Staatskatholizismus tatsächlich an den Kragen wollte – wo, wenn nicht in Berlin, hätte das am wenigsten Popcornkino-Qualität?

Berlin ist eben insgesamt kein sonderlich guter Nährboden für religiöse Fanatismen. Nicht mal ein paar vierschrötige Salafisten bekommt man hier zu Gesicht. Die Stadt ist einfach zu groß, als dass die Mittelalterlichen jedweder Glaubensrichtung eine kritische Masse erreichen würden. Eigentlich kein Grund zum Jammern, sondern zur Freude.

P. S.: Die schriftlich und mündlich vorgetragene Behauptung der rothaarigen Frau aus dem Kölner Dom, sie sei Gott, kann einen wahren Katholiken selbstverständlich nicht überzeugen: Frauen können es in seiner Konfession allerhöchstens zur Gottesmutter bringen, und selbst dabei handelt es sich quasi um eine Attrappe. Wie heißt es doch in dem alten Lied, dass der Kardinal nach der unbotmäßigen Altarbesteigung anstimmte? „Er kommt aus seines Vaters Schoß / und wird ein Kindlein klein / er liegt dort elend, nackt und bloß / in einem Krippelein / in einem Krippelein.“