Der Hopfen will gut gewählt sein

BIER Eine kleine Brauerei auf St. Pauli nimmt sich ein bisschen mehr Zeit fürs Brauen und bietet besondere Sorten wie Pale Ale an. Das Konzept scheint aufzugehen. Der Braumeister hat früher bei Beck’s getüftelt und freut sich, dass er sich ausleben darf

■ Die Macher der Craft-Beer-Bewegung stemmen sich gegen den Trend, dass internationale Großbrauereien weltweit die kleineren Konkurrenten schlucken und industriell möglichst günstig Massenware produzieren, die zwangsläufig nuancenarm schmeckt.

■ Craft ist das englische Wort für Handwerk. Die Brauer haben es sich zum Vorbild genommen und experimentieren mit ihren Vorlieben, Erfahrungen und Ideen.

■ Zum Brauen werden verschiedene Malzmischungen genutzt. Das Bier gärt bei niedrigeren Temperaturen und lagert länger. Anstatt mit Hopfenextrakt zu arbeiten, verwenden die Craft-Brauer teilweise mehr als ein halbes Dutzend Hopfen für eine Sorte.

■ Die Bewegung entstand Mitte der 1970er-Jahre in den USA und schwappte über Belgien und Skandinavien zu uns.

■ Neben der Ratsherrn-Brauerei eröffnete in Hamburg 2012 auch die „Kreativbrauerei Kehrwieder“, deren Mitgründer Oliver Wesseloh dieses Jahr Weltmeister der Biersommeliers wurde.  JOE

VON THOMAS JOERDENS

Wir stehen im Gang eines stahlgrauen, weitverzweigten Rohrsystems. Thomas Kunst schaut suchend, findet schnell und hält ein Glas unter einen Hahn, dessen Ventil er behutsam öffnet. Nach viel Schaum fließt sonnengelbes, naturtrübes Pale Ale. Der Kenner riecht ausgiebig, nimmt einen kleinen Schluck und kommentiert zufrieden: „Ah, tolles Aroma.“

Bis das Bier allerdings perfekt ist, muss es noch einige Zeit in dem Tank lagern, aus dem sich der Braumeister gerade das sogenannte Zwickelbier abgezapft hat – so werden junge Biere genannt. Thomas Kunst reicht das Glas weiter. Das Bier schmeckt hopfig, kräftig und zugleich fruchtig; im Abgang bitter, aber nicht unangenehm. Kein Vergleich mit den üblichen Supermarktbieren. Der Brauer strahlt und weiß, dass er gerade alles richtig macht.

Dieses Gefühl spürt der 48-jährige Bremer seit vier Jahren. Damals heuerte er bei der Hamburger Ratsherrn-Brauerei an. Diese hatte der Stralsunder Getränkegroßhändler „Nordmann Unternehmensgruppe“ wiederbelebt, nachdem die 1951 gegründete Bierfabrik vor 13 Jahren von der Bildfläche verschwunden war. Als Standort guckten sich die Investoren denkmalgeschützte Viehhallen eines alten Schlachthofs aus im Schanzenviertel auf St. Pauli. Thomas Kunst, gelernter Brauer und Mälzer sowie Diplom-Braumeister, sollte die Anlage planen, ein neues Pils entwickeln und „Ratsherrn“-Bier zu dem machen, das es Ende der 1970er-Jahre einmal gewesen ist: das meistverkaufte Premium-Pils der Hansestadt.

Aber es kam noch besser. „Wir dachten anfangs, wir setzen uns über Qualität durch, merkten aber schnell, dass das nichts wird. Denn Pils ist nach wie vor die beliebteste Biersorte, und die bieten einfach alle an“, sagt Thomas Kunst. So entstand die Idee, auch auf geschmackliche Abwechslung zu setzen und Teil der internationalen Craft-Beer-Bewegung zu werden.

Aus hochwertigen Zutaten sollten mehrere spezielle Biersorten entstehen – also das Gegenteil der industriell gebrauten Einheitsbiere für den Massenmarkt. „Craft“ ist das englische Wort für Handwerk, und Brauhandwerk sollte bei Ratsherrn im Vordergrund stehen. Damit erfüllte sich für Thomas Kunst ein Brauertraum, denn er darf seine Lieblingsbiere herstellen. „Natürlich habe ich früher mal daran gedacht, aber es fehlte die Gelegenheit“, sagt der zweifache Vater und grauhaarige Plauzenträger, der es in Sachen Genuss offenbar üppig und gehaltvoll mag.

Thomas Kunst hat sein Handwerk bei der Bremer Brauerei Beck’s gelernt und etwa 20 Jahre am Ruf des Beck’s-Biers mitgearbeitet. Die 90er-Jahre, also lange vor der Übernahme durch den Anheuser-Busch-In-Bev-Konzern, nennt Thomas Kunst sein „goldenes Zeitalter“ bei der Traditionsbrauerei an der Weser. Der Vertreter des Ersten Braumeisters und seine Kollegen hätten vieles ausprobiert und sich mit Wissenschaftlern ausgetauscht. „Wir waren technologisch führend auf dem deutschen Markt“, erinnert sich Kunst, der zum Schluss zuständig war für die Qualitätssicherung der deutschen Anheuser-Busch-In-Bev-Standorte.

Bei Ratsherrn lebt Thomas Kunst sein Qualitätsbewusstsein und seine Freude an unterschiedlichen Geschmäckern noch intensiver aus. Und er erzählt, wie man aus Hopfen, Malz, Wasser und Hefe Biere braut, die sich jenseits der faden Sorten bewegen, die „zur Ballerbrause verkommen sind“. Im gläsernen Sudhaus doziert der gemütliche Vielredner über unterschiedliche Malz- sowie Hopfensorten und zupft Dolden auseinander, um sie dem Besucher unter die Nase zu halten.

Bitterhopfensorten sorgen für den bitteren Geschmack, und Aromasorten geben dem Getränk florale oder fruchtige Aromen. Für Laien sind solche Noten kaum zu erkennen, doch sie charakterisieren das jeweilige Bier. Großbrauereien benutzen oft nur Hopfenextrakt. Thomas Kunst mischt aus den über 100 existierenden Hopfensorten jeweils vier bis sechs in seine Biere. Seine aktuellen Lieblinge sind Simcoe aus den USA mit einem waldigen, fruchtigen Südfrüchte-Aroma und der deutsche Saphir-Hopfen. Dieser sei reich an Zitrusaromen und anderen Hopfenölen und prägt neben vier anderen Sorten das Pale Ale von Thomas Kunst.

Außer den Zutaten sei ein maßgebender Faktor die Zeit, die der Brauer seinem Bier gibt. Nach dem Sud, der etwa sechseinhalb Stunden dauert, lassen Thomas Kunst und seine vier Brauerkollegen das Bier in der Regel eine Woche bei niedrigen Temperaturen gären. Anschließend reift das Getränk in dem Rohr- und Tanklabyrinth noch einmal zwei bis drei Wochen bei fast minus zwei Grad Celsius. „Danach haben sich alle Aromen entfaltet und die Biere runden sich ab“, sagt Thomas Kunst. Bier brauen geht auch innerhalb von sieben Tagen. Aber entsprechend öde schmecke es.

Zwerg unter Riesen

„Bier kann so unheimlich vielfältig sein“, schwärmt der Chefbrauer. Bei Ratsherrn sind seit der Eröffnung im März 2012 acht Biersorten gebraut worden. Drei haben es in die 0,33er-Flaschen geschafft und werden im norddeutschen Raum verkauft.

Neben dem klassischen Pils, einem stärkeren Rotbier und einem noch stärkeren Pale Ale zapft die Ratsherrn-Crew im Gasthaus der Brauerei auch Zwickel, Weißbier und Saisonbiere wie Iggy Hop, Springbock und Summer Ale. Als nächstes soll ein dunkles, kräftiges Winterbier das Sortiment erweitern mit einer Gewürzmischung aus Nelken, Zimt, Anis, Orange und Karamell. Und fürs Frühjahr sei Bier Nummer zehn geplant.

Kunst ist mit der Entwicklung der Ratsherrn-Brauerei zufrieden. Im vergangenen Jahr habe man 10.000 Hektoliter gebraut und 2013 werden es wohl über 16.000 Hektoliter. Im dritten Geschäftsjahr hofft Thomas Kunst auf einen Absatz von mehr als 20.000 Hektoliter. Damit ist das Hamburger Unternehmen in der Brauerei-Szene ein Zwerg und wird es auch bleiben. Als jährliche Gesamtproduktion sind höchstens 50.000 Hektoliter drin. Die führende deutsche Brauerei Radeberger braute 2011 über zwölf Millionen Hektoliter.