90 MINUTEN … IN DER TÜRKISCHEN SPORTBAR „ZUM TOR“

Männer spielen Domino. Das Ballspiel im Plasma-TV gegen die verhassten Schweizer – egal

Heute bekommt die kochende türkische Seele ihre Genugtuung, bestimmt. Heute kommt die Rache. Denn heute werden die Togolesen die verhassten Schweizer besiegen.

Sportbar „Zum Tor“, Kottbusser Damm, Berlin-Neukölln, 15 Uhr, Anpfiff des Spiels Schweiz gegen Togo in Dortmund. Was für ein Tag! Denn heute müssen die Schweizer bezahlen. Diese SCHWEIZER, die der Türkei ihre WM-Teilnahme geraubt haben, wir erinnern uns, im November letzten Jahres war es, da kickten die Schweizer die Türken aus der Qualifikation. Das Rückspiel in Istanbul geriet zum Skandal: Zwar hatten die Türken 4:2 gewonnen, aber das reichte nicht mehr, und nach dem Spiel mussten sich die Schweizer Spieler in die Kabine flüchten, um nicht Opfer des Volkszorns zu werden, und die Fifa hat die Türken hart bestraft – die nächsten Spiele muss ihre Nationalmannschaft auf neutralem Boden und unter Ausschluss der Öffentlichkeit austragen. Aber heute ist der Tag der Revanche.

Berlin-Neukölln, die Sportbar „Zum Tor“ am Kottbusser Damm, anders, als ihr deutscher Name es vermuten lässt, wird sie fast ausschließlich von türkischen Sportfreunden besucht, an der Wand hängen die Wimpel der großen türkischen Fußballvereine, es wird Tee getrunken, alles voller türkischer Männer, nur ein einsamer Schwarzer sitzt an der Bar, der wird heute hier lauter Freunde finden, sollte er Togolese sein, denn die Türken sind auf der Seite Togos.

Was wir allerdings erfahren: Die türkische Seele, am heutigen Tag, in dieser Kneipe, ist völlig ruhig, gelassen, man könnte sagen: ausgeglichen. Sollte auch nur einer der Türken hier böse Gefühle den Schweizern gegenüber hegen, dann kann er sie gut verbergen, aber es scheint nicht so zu sein, dass es diese bösen Gefühle gibt. Es scheint eher so zu sein, dass es keinerlei Gefühle gibt, hier, heute, angesichts des Spieles Togo gegen die Schweiz.

In der Ecke rechts über der Bar ist ein Fernsehgerät aufgestellt, so ein großes Plasmateil, man kann das Spiel von jedem Platz der Kneipe gut verfolgen, wenn man denn wollte. Die Türken trinken lieber Tee, unterhalten sich und spielen ein Spiel, das entfernt an Domino erinnert. Kein Aufstöhnen über verpasste togolesische Chancen, kein Protest gegen den nicht gegebenen Elfmeter für Togo, keine Regung, nichts. Als die Schweiz mit 1:0 in Führung geht, scheint der Schwarze an der Theke kurz zu seufzen, aber auch diese Regung ist dermaßen subtil. Vielleicht ist es heute schlicht zu schwül für große Gefühle.

Klack-klack-klack machen die Spielsteine der Türken; die lachen, aber nicht über die Schweiz, sondern über einen Witz des Tischnachbarn, soll die Schweiz doch gewinnen. Die zweite Halbzeit wird jetzt immerhin von einem Türken verfolgt, so mit einem halben Auge, er muss offenbar gerade beim Domino aussetzen. Weitere Chancen für die Schweizer, ihre Fans feiern im Plasmagerät, Otto Pfister schäumt, der Türke bleibt seelenruhig. Muss die Türkei ihre Spiele demnächst ohne Fans austragen, dürfen die Schweizer bei der WM mitspielen, gewinnen sie am Ende gar mit 2:0 – man hat es alles akzeptiert. Aber man muss es sich nicht auch noch ansehen. STEFAN KUZMANY