Lasst tausend Tausendfüßler vom Himmel regnen!

PALERMO Mit einem superben Sinn fürs Fiese: Die Probleme der sizilianischen Familie dekliniert die Autorin Emma Dante seit Jahren in Theaterstücken durch. Jetzt hat sie ihr Prosadebüt geschrieben

Die Situation könnte einem Lehrbuch zur Kommunikationstheorie von Watzlawick & Co. entnommen sein: In einer einspurigen Gasse fahren zwei Autos aufeinander zu – und natürlich will keines der beiden zurücksetzen. Der lächerliche Konflikt im Straßenverkehr wächst sich buchstäblich zur existentiellen Tragödie aus, bei der es eben nicht um Klärung der Inhalte, sondern allein um die Klärung der Beziehung geht. Doch – und das ist das Originelle am Setting – steht nicht die Beziehung der beiden Fahrerinnen zueinander zur Debatte, sondern die zu ihren jeweiligen MitfahrerInnen; verhandelt werden Selbst- und Fremdverortung.

Die beiden Protagonistinnen – das sind Rosa, Lesbe und Palermitanerin, die inzwischen mit ihrer Lebensgefährtin in Mailand lebt und unter ihrer Homophobie leidet, und Samira, eine Albanerin, deren Aufenthalt nach sechzehn Jahren in Italien immer noch nicht legalisiert ist und die beim Mann ihrer verstorbenen Tochter, Saro Calafiore, lebt. Dieser Saro hält sich wie jeder gleichaltrige Mann um ihn herum für den Nabel seiner Familie, der sogar noch ihre Freizeitgestaltung dirigiert: „Das Startsignal für das Strandleben ist also der auf dem Stuhl sitzende Vater.“

Mit der Vaterthematik reitet die 1967 geborene Autorin Emma Dante eines ihrer Steckenpferde. In ihren Dramen und Regiearbeiten dekliniert sie die Probleme der sizilianischen Familie seit Jahren durch, entlarvt diese als Büchse der Pandora, als das Gegenteil von Hotel Mamma. „Die Calafiores hassen einander. Alle. Aus ganz unterschiedlichen Gründen. Doch um nichts in der Welt würden sie sich trennen. Träge und resigniert, an den nekrotischen Zustand jeder Freude gewöhnt, verbringen sie ihr Leben in dem weichen, unförmigen Bauch, den zu verlassen ihnen immer schwerer fällt: dem Haus.“

Aber zurück zu Saro. Der möchte eine Wette faken, welche der beiden Frauen zuerst den Rückwärtsgang einlegt. Samira setzt er entsprechend unter Druck. Die jedoch schert klammheimlich sowohl aus der Wette wie auch aus dem verseifenoperten Beziehungsgeflecht aus, riegelt sich allein im Auto ein – und wartet auf den Tod. Zwischen ihr und Rosa entwickelt sich eine Art aggressiver Solidarität.

Der nächste Morgen bringt dann mit dem Scirocco Tausendfüßler, die vom Himmel regnen; „Magnolia“ lässt grüßen (und nicht nur hier). Er bringt für Samira den Tod und für Rosa tatsächlich so etwas wie einen Neuanfang.

Dante erzählt detailfreudig und derb, ihre Eingangsszene, das martialisch organisierte allsonntägliche Strandvergnügen, offenbart zudem einen superben Sinn fürs Fiese. Und sie hat eine Menge zu sagen, fünf Romane hätte sie aus ihrem Material machen können. Stattdessen montiert sie ihre Geschichten zu einem einzigen Bild, das ebenso viel über Sizilien, Familie und Heuchelei aussagt, wie es weglässt. Ihr Schnitt ist dabei so gut, dass die Lücken meist stimulierend sind, die Stoffmenge nur in Ausnahmen gerafft wirkt. Damit ist ihr Prosadebüt zwar nicht spektakulär, aber man ist auf diese Autorin aufmerksam geworden. Man darf auf mehr gespannt sein. CHRISTIANE PÖHLMANN

Emma Dante: „Mitternacht in Palermo“. Aus dem Italienischen von Christiane von Bechtolsheim. Luchterhand, München 2010, 144 Seiten, 8 Euro