Multikulti im Zweistromland

In der Stadt Mardin im äußersten Südosten der Türkei leben Christen und Muslime seit Jahrhunderten zusammen. Ein junger Architekt versucht, einer alten Stadt neues Leben einzuhauchen. Auch um ihre touristische Attraktion zu erhöhen

Tourismus – das ist das Zauberwort. Auch die Christen setzten mit Elan mehrere Kirchen instand

von ANTJE BAUER

„Im Osmanischen Reich war es Nichtmuslimen untersagt, auf Pferden zu reiten. Aber hier in Mardin durften Nichtmuslime Pferde besitzen, sie verkaufen und auch auf ihnen reiten“, sagt Salahettin Bilirer mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme. Seit seiner Pensionierung ist der 53-jährige ehemalige Unternehmer zum Hobbyhistoriker und Intellektuellen seiner Stadt avanciert. Einer Stadt, deren unterschiedliche Bevölkerungsgruppen er mit großem Genuss aufzählt: „In Mardin werden von jeher vier Sprachen gesprochen: arabisch, kurdisch, türkisch und assyrisch. Es gibt noch ein paar armenische Familien, aber ich habe nie gehört, dass sie armenisch reden. Es gibt orthodoxe Assyrer, katholische Assyrer und ein paar protestantische Assyrer, es gab früher einige gregorianische Armenier und katholische Armenier. Auch die Chaldäer sind katholisch. Dann gab es früher auch eine sehr kleine jüdische Minderheit. Die Muslime teilen sich auf in Hanefiten und Schaafiten. So eine Suppe ist das hier.“

Mardin, der Topf, der diese „Suppe“ enthält, ist eine kleine, an einem Steilhang gelegene Stadt. Auf dem Kamm des Hügels liegen die Ruinen einer einst als unbezwingbar geltenden Festung. Bis vor kurzer Zeit wurde diese von einem riesigen militärischen Radarschirm überragt, der die mesopotamische Ebene und den benachbarten Irak abtastete. Die Stadt blickt hinunter in die Ebene von Mesopotamien, dem Zweistromland, und weil sich diese Ebene glatt und scheinbar endlos erstreckt, wird sie „das Meer von Mardin“ genannt. An fahlen Morgenden liegt oft ein feiner, grünlich blauer Nebelschleier über dem Meer von Mardin. Im harten Licht des Mittags verwandelt sich die Ebene in eine leuchtende Fläche, die sich in der Ferne verliert. Mardins Altstadt – helle Steinhäuser, wie Schuppen in- und aneinander gesetzt – wurde vor etwa hundert Jahren von armenischen Baumeistern erbaut. Die hohen, schmalen Türen und Fenster sind von kunstvollen steinernen Verzierungen umrandet. Von der Ebene aus betrachtet erinnern diese Häuser an Venedig. Nur dass außer Kirchturmspitzen auch zahlreiche Minarette auszumachen sind.

Hoffärtig sieht Mardin von weitem aus, stolz und schweigend, aber wer ihr näher kommt und in ihre dunklen Gassen eintaucht, gerät in Menschengewimmel und Eselsgeschrei, riecht feuchte alte Mauern und frischen Kaffee, passiert Säcke voller roter Paprika und Trockenbohnen am Straßenrand und verrauchte Teestuben, in denen Männer auf Plastikstühlen sitzen und Okey spielen. „Nimm mich mit nach Deutschland!“, ruft ein junger Kerl, der auf dem Markt dicke Ballen von einem Lastwagen auf den Rücken eines Mulis umlädt. „Hier gibt es keine Arbeit. Und in Deutschland bekommt man als Arbeitsloser doch Geld vom Staat.“

Vermutlich war Mardin niemals eine reiche Stadt. Sie lag immer ein bisschen abseits der Karawanenwege. Sicher aber hat ihr der Zerfall des Osmanischen Reiches nicht gut getan, denn da wurden ganz in der Nähe Grenzen gezogen. Plötzlich waren die Handelswege hier zu Ende, ging es nicht mehr weiter nach Bagdad oder Damaskus. Immer mehr Einwohner sind deshalb gegangen. Ins Ausland, in die türkischen Großstädte – je weiter nordwestlich, desto besser. Vor allem die Reichen und die Gebildeten sind gegangen, natürlich. Und die Christen.

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bildeten sie vermutlich die Mehrheit der Bevölkerung. 1915 setzte der Genozid an den Armeniern ein, unweit von Mardin entfernt wurden sie in die syrische Wüste ins Verderben geschickt. Auch Armenier aus Mardin waren dabei, obwohl sich die einheimischen Muslime offenbar bemüht haben, ihre christlichen Mitbürger zu schützen. Dass in der türkischen Republik Nichtmuslime die längste Zeit per Gesetz diskriminiert wurden, trieb weitere Christen in die Flucht. Dann kamen in den 90er-Jahren die Spannungen aufgrund der Kurdenguerilla PKK hinzu – die Christen, die es sich leisten können oder anderswo Verwandte haben, suchen seit über 100 Jahren das Weite. Etwa 3.000 Christen leben heute noch hier in Mardin, neben 66.000 Muslimen.

„Obwohl wir nur noch eine kleine Gemeinschaft sind, werden wir von allen respektiert“, sagt der assyrische Priester Akyüz in seinem kleinen Büro, in dem das behäbige Ticken einer Standuhr die Zeit langsam vorwärts schiebt. „An Feiertagen kommen der Bürgermeister, der Staatsanwalt und der Chef des Sicherheitsdienstes zu unserem Gottesdienst.“ Auch im Alltag kämen Muslime und Christen gut miteinander klar, man lebe Tür an Tür und pflege gutnachbarliche Beziehungen. Auf die Frage, ob es auch Ehen zwischen Christen und Muslimen gibt, gerät der Priester jedoch in Rage. „Mischehen sind verboten“, sagt er empört. „Das ist das Grundgesetz der Kirche. Wir sind richtige Christen, nicht solche Weicheier.“

Das sieht auch Zühriye Türkoglu so. „Wir sind gut Freund mit den Christen. Aber wir geben ihnen keine Mädchen, und sie geben uns keine“, sagt die Muslimin freundlich. „Das wäre ja sonst Sünde!“ Zühriye Türkoglu wohnt in einem alten Mardiner Steinhaus: meterdicke Mauern, hohe Decken, ein eigener Brunnen und eine Terrasse, auf der die Familie im Sommer die Betten aufstellt.

Die 74-Jährige kann sich noch an die Zeiten erinnern, als man in Mardin vier Monate lang Winterschlaf hielt. „Wir hatten alles zu Hause“, sagt sie. „Essen, Feuerholz. Wir hatten eine Lüks, eine deutsche Gaslampe, die hat geleuchtet, und mein Vater hat aus ‚Tausendundeiner Nacht‘ vorgelesen.“ Wintervorräte legt sie auch heute noch an. Im Sommer, wenn er frisch und billig ist, kauft sie große Mengen Schafskäse, legt ihn in Salzlake und lagert ihn dann in großen Tonbottichen. Außerdem stehen in ihrer dunklen Speisekammer Bottiche voller Weizengrütze und Reis, Nudeln und Oliven. Auch den Brotteig setzt sie noch selbst an und bringt ihn dann zum Bäcker.

Aber ansonsten hat sich viel geändert seit Türkoglus Jugendzeit. „Heute lebt die Familie nicht mehr in einem Haus“, sagt sie bedauernd. „Mein Sohn hat gerade geheiratet. Der hat eine eigene Wohnung, eine eigene Küche, eigenes Essen …“ Nicht nur bei den Türkolus ist es so, dass junge Ehepaare heute ihre eigene Wohnung haben und dort bequemer leben wollen als ihre Altvorderen. Und diese veränderten Bedürfnisse kann man Mardin leider ansehen. Seit den Siebzigerjahren haben die Bewohner der Altstadt auf viele der edlen alten Terrassen billige Hütten aus dünnem Mauerwerk und Wellblech gesetzt, haben in freie Ecken Toiletten gebaut und Klimaanlagen in die filigran verzierten Fensterrahmen eingesetzt. Zwischen dem alten behauenen Stein kreischt nun buntes Plastik. Beendet wurde die fortgesetzte Verschandelung der Stadt erst, als unten, am Fuß des Hügels, eine Neustadt entstand und die Gutverdienenden hinunter zogen in moderne Apartments mit fließend Wasser und Zentralheizung. Zurück in der Altstadt blieben die Alten und die Armen, der bäuerliche Markt, der nichts einbringt, und viele verfallende Häuser.

Vor ein paar Jahren kam ein junger Architekt namens Seyhmus Dincel, der, anders als die meisten Uniabsolventen, seiner Stadt nicht den Rücken gekehrt hatte, auf die Idee, Mardin wieder so aufzumöbeln, dass sie zu einer Touristenattraktion würde. Seyhmus Dincel, ein Enkel von Zühriye Türkoglu, suchte sich ein paar Mitstreiter und ein paar Sponsoren und erstellte eine Zustandsanalyse der Altstadt von Mardin sowie einen Kostenplan für die Restaurierung der wichtigsten Gebäude. Mit wenig Geld setzte er einen halb verfallenen Markt instand. „Der Markt war eine wichtige Sache“, erklärt er, ein dynamischer junger Mann mit ständig klingelndem Handy. „Alle Leute sind hingegangen und haben sich das angeguckt und haben gesehen, was für einen Schatz sie hier in der Stadt haben.“ Der Gouverneur habe daraufhin Geld für die Restaurierung einer Medresse organisiert, und Bürger hätten Geld für die Herrichtung von zwei Moscheen gespendet. Auch die Christen renovierten nun mit verstärktem Elan mehrere Kirchen.

Tourismus – das ist das Zauberwort. Wenn mehr Touristen kämen, dann gäbe es einen Wirtschaftsaufschwung. Und dann blieben auch die jungen Leute am Ort. Dann könnte man mehr alte Gebäude restaurieren. Bislang lassen die Touristen jedoch auf sich warten. Daran ist vermutlich der Krieg im nahe gelegenen Irak schuld. Doch Salahettin Bilirer, der Intellektuelle, hat schon mal zu träumen begonnen: dass auf Mardins Straße irgendwann in naher Zukunft nicht mehr nur arabisch, assyrisch und türkisch geredet wird, sondern auch englisch, französisch, spanisch und japanisch.