berliner szenen Sich wie zu Hause fühlen

Blau-gelber Ausflug

Die Schweden sind da. Berlin, die gütige Hure, ist im Sturm genommen. Gegen diesen massiven Einfall nimmt sich der 30-jährige Krieg aus wie ein Wandertag im Nonneninternat.

Wie viele es sind, ist schwer zu sagen. Der umfangreiche Tross aus kleinen Kindern mit blau-gelben Narrenkappen, Narren mit gelb-blauen Kunstirokesen, blonden Quietschemädchen mit blauen Haarsträhnen, Fahnen, Wikingerhelmen, Getränkekisten und billigen Kieferregalen lässt die Menge noch unübersichtlicher erscheinen. Der alte Schwede auf dem Beifahrersitz meines Taxis spricht von 50.000 – der RBB wird die Zahl später bestätigen.

Lange nach Mitternacht sammeln sie sich erneut auf dem Wittenbergplatz. Sie feiern den Sieg und sich selbst. Schon am Nachmittag hatten sie sichtlich Freude daran, einfach nur da zu sein, viele zu sein, gelb zu sein, blau zu sein, den Platz zu füllen, ihn voll zu machen, voll zu sein. Doch warum ausgerechnet der Wittenbergplatz, wo Ikea in Ruhleben ein Mehr an Heimat, Auslauf und obendrein Nähe zum Olympiastadion verspräche? Die Antwort liegt wohl in der Stadt Wittenberg: Ein Anker des Glaubens für die protestantischen Skandinavier. Zugleich Wirkungsstätte des Reformators und Erinnerung an den großen Spaß, als Gustav Adolfs blau-gelbe Ausflugsgesellschaft sechzehnhundertdings dem dortigen Bürgermeister Jauche in den Rachen goss, bis er platzte. Was hatte man gelacht!

Doch genug gefeiert: Der alte Schwede möchte vom Wittenbergplatz zurück ins Hotel. Allein. „Die anderen sind jünger“, erklärt er, außerdem müsse er am nächsten Tag das Auto fahren. Mit dem Auto? Nach Schweden? Übers Meer? Na gut, er muss es wissen – er ist schließlich der Fahrer. ULI HANNEMANN