Noch frieren die Menschen nicht

MOLDAU Trotz Drohungen aus Moskau setzt die Regierung auf eine Annäherung an Europa

Die Opposition macht aus ihrer Ablehnung des Assoziierungsabkommens mit der EU kein Hehl

AUS CHISINAU ANNA GUTSAN

Treffen die Ereignisse in der Ukraine den Nerv der Bevölkerung in der Republik Moldau? Einerseits ja, das zeigen die vielen Posts auf Facebook. Jeder zehnte Beitrag beschäftigt sich mit dem Maidan. Doch das heißt nicht, dass die Proteste in Kiew für die Bevölkerung oberste Priorität hätten. Seit Beginn der Aktionen auf dem Maidan hat es in Chisinau nicht eine einzige Solidaritätsaktion mit den Demonstrierenden gegeben.

Die herrschende Machtelite, der Vertreter der regierenden „Allianz für europäische Integration“ und der Opposition sowie neutrale Geschäftsleute angehören, sind vor allem an einer stabilen Moldau interessiert. Sie stellt sich eindeutig hinter die Demonstranten in der Ukraine. Der ehemalige Premierminister und Chef der Mehrheitspartei Liberaldemokratische Partei der Moldau, Vlad Filat, rief die Ukrainer in Kiew dazu auf, weiter für die Demokratie zu kämpfen. Aus Solidarität mit den Leuten des Maidan hat man sich entschlossen, den Triumphbogen auf dem zentralen Platz der Hauptstadt Chisinau in diesem Jahr mit Girlanden in den ukrainischen Nationalfarben zu schmücken.

Die Opposition macht aus ihrer Ablehnung der Paraphierung des Assoziierungsabkommens mit der EU am 28. November in Vilnius kein Hehl und unterstützt somit die Position des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch. Die Opposition in Moldau wäre sicherlich erstaunt über die Hartnäckigkeit und die große Anzahl der Demonstranten, wäre da nicht die Mutmaßung über „den Boxkämpfer“ an der Spitze der Bewegung. Angeblich plant Witali Klitschko einen Ausverkauf des Landes an die Amerikaner und Europäer, die ja den Maidan-Protest finanzieren.

Die Menschen beziehen ihre Informationen vor allem aus den Medien. Diese lassen sich in der Regel der Regierung oder der Opposition zuordnen. Eine nicht unwesentliche Rolle spielen auch die prorumänischen Medien, die jenseits des Grenzflusses Prut ihre Geldgeber haben und die sich eindeutig als proeuropäisch verstehen. Einige unabhängige Medien gehören Privatpersonen und bedienen deren Interessen.

Den Ergebnissen einer Umfrage aus dem Jahr 2011 zufolge, die vom Zentrum für unabhängige Journalistik in Moldau in Auftrag gegeben wurde, steht der private Fernsehkanal Prime TV, der einem führenden Politiker der Liberaldemokraten gehört, an erster Stelle in der Beliebtheitsskala. An zweiter und dritter Stelle stehen der öffentliche Kanal Moldova 1, der im wesentlichen Regierungspositionen vertritt, und der Kanal Pro TV Chiinu, der vom Ausland finanziert wird. An Popularität gewonnen hat in den letzten Jahren der Nachrichtenkanal PublicaTV, der den gleichen Besitzer wie Prime TV hat und sich als „Motor demokratischer Werte und Prinzipien der Eurointregration“ versteht.

Führend in der Print-Presse sind die Komsomolskaja Prawda und die Antenna, die in russischer Sprache erscheinen. Überschriften in der Komsomolskaja Prawda wie: „Die Demonstranten dachten wohl, Europa sei das Paradies“ oder „Eingekreiste Sicherheitskräfte: Sie haben so auf uns eingedroschen, dass sich die Helme in die Kopfhaut eindrückten“ machen deutlich, wohin die Zeitung tendiert.

Eine völlig andere Botschaft bietet die Zeitung Timpul mit Überschriften wie: „Die Hüter des Gesetzes jagten die Kiewer Demonstranten auf den Europäischen Platz“ ihrer Leserschaft.

Seit Beginn der Demonstrationen in Kiew sind in den moldauischen Medien zahlreiche Artikel und Kommentare erschienen, die versuchen, die Schuldigen auszumachen und die Zukunft vorherzusagen. So erklärt der Historiker Octavian Ticu, warum sich die Ukraine für den Westen entscheiden werde. Ein anderer Autor, Igor Segin, erklärt, warum die Ukraine auf eine EU-Integration nicht vorbereitet sei, und kommt dann zu dem Schluss, dass es die ukrainische Regierung versäumt habe, der Gesellschaft die Vor- und Nachteile der einzelnen Schritte hin zur Integration zu erläutern. Der Blogger und politische Beobachter Ernest Vardanjan gesteht, dass er des Themas „Euro-Maidan“ schon überdrüssig sei und sagt ein Scheitern der Östlichen Partnerschaft voraus.

Doch trotz aller unterschiedlichen Ansichten – in einem Punkt herrscht Konsens: Gut erinnern sich die Moldauer an den Besuch des stellvertretenden russischen Regierungschefs Dmitrij Rogosin in Chisinau, nur wenige Monate vor dem EU-Gipfel in Vilnius. Rogosin hatte den Moldauern klar gemacht, dass sie im Winter frieren würden, sollte die Regierung Moldaus die Assoziierung mit der EU paraphieren. Die Regierung hat unterschrieben, aber die Menschen frieren trotzdem nicht.

Könnte es nicht sein, dass die Moldauer dies dem Nachbarn Ukraine zu verdanken haben, der sich dem Kreml gebeugt und in Vilnius nicht unterschrieben hat? Hat der Kreml vielleicht, nachdem er die Gewissheit erlangte, die weitaus größere Ukraine gehalten zu haben, seine Rache an der Moldau vergessen? Könnte es sein, dass die Moldauer sich hinter dem Rücken der Ukraine verstecken, Kiew die Moldau durch sein Verhalten gar schützt? Und ist es nicht vielleicht sogar so, dass den Moldauern die Entscheidung von Janukowitsch ganz gelegen kommt, man dies nur nicht laut sagen möchte?

Aus dem Russischen: Bernhard Clasen