Als der Holocaust den Deutschen plötzlich wehtat

AUFARBEITUNG Der Auschwitz-Prozess war ein Wendepunkt für die bundesdeutsche Gesellschaft

BERLIN taz | Das Verfahren beruhte auf reinen Zufällen. Am 1. März 1958 beschwert sich der Häftling Adolf Rögner, ein in Bruchsal einsitzender Betrüger, bei der Stuttgarter Staatsanwaltschaft über die Beschlagnahmung seiner Medikamente. Seinem Brief legt er die Anzeige gegen einen gewissen Wilhelm Bogner bei, der in Auschwitz Menschen ermordet habe. „Ich kenne eine Reihe von Verbrechen, welche ich selbst gesehen habe“, schreibt Rögner. Die Staatsanwälte sind skeptisch, doch die Ermittlungen beginnen – zäh, langwierig, schleppend.

Am 1. Januar 1959 übergibt der NS-Verfolgte Emil Wulkan dem Journalisten Thomas Gnielka Listen von Auschwitz-Häftlingen, die „auf der Flucht erschossen“ worden sind. Dabei: die Namen der Schützen. Gnielka reicht die Dokumente an den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer weiter. Bauer ermittelt – zielgerichtet, unnachgiebig und mit großem Aufwand.

Andererseits war der Frankfurter Auschwitz-Prozess, der am 20. Dezember 1963 im Frankfurter Römer begann, keineswegs ein Produkt von Zufällen, sondern Ergebnis akribischer Recherchen und eines Wandels in der Strafverfolgung gegen mutmaßliche NS-Verbrecher.

In den 1950er Jahren geht die Zahl der Verfahren immer weiter zurück, die bundesdeutsche Justiz – selbst tief belastet – glaubt bald den berühmten Schlussstrich ziehen zu können. Von NS-Tätern will auch die Mehrheit in der Bevölkerung nichts wissen.

Die Umkehr beginnt mit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess im Sommer 1958. Der Hauptangeklagte Bernhard Fischer-Schweder, der in Tilsit als Polizeichef an Massenhinrichtungen beteiligt war, kommt für zehn Jahre hinter Gitter.

Daraufhin wird in Ludwigsburg die „Zentrale Stelle“ zur Ermittlung von NS-Verbrechern eingerichtet: Endlich existierte eine Institution, die an der Aufklärung arbeitet, statt diese zu hintertreiben.

Zur selben Zeit gelingt es Fritz Bauer, einst selbst von den Nazis ins KZ verschleppt, mithilfe der Dokumente Wulkans den Ermittlungskomplex Auschwitz zentral nach Frankfurt zu holen. Bauer und die Zentrale Stelle ermitteln gegen hunderte Auschwitz-Beteiligte. 22 Männer müssen sich vor Gericht verantworten, vom Adjutanten des Lagerkommandanten über Ärzte, die den Häftlingen tödliche Phenol-Spritzen direkt ins Herz setzten, bis zu dem Mann, der das Zyklon B in die Gaskammern schüttete.

Dieser Prozess wurde, wie der Historiker Devon O. Pendas schreibt, zum „kulturellen Markstein“ der jungen Bundesrepublik, zum Wendepunkt in der Verfolgung von NS-Verbrechern. Denn hier stellt sich heraus: All die netten Apotheker und Mediziner von nebenan, die unauffälligen Ladeninhaber und Hauptkassierer bei der Sparkasse, der Buchhalter, Kellner und der Sachverständige beim TÜV, sie waren Massenmörder gewesen. Die Erinnerung an den Holocaust erreichte die Deutschen dort, wo es wehtut: direkt unter ihnen. Erschütternde Einzelheiten werden bekannt, so wie die „Bogner-Schaukel“, ein Gestell, bei dem der Häftling kopfüber und nackt aufgehängt und auf die Geschlechtsteile geschlagen wurde, bis er starb.

In der Strafsache 4 Ks 2/63 werden 211 Überlebende vernommen, Sachverständige gehört, Historiker befragt, es kommen ehemalige SS-Männer zu Wort. Danach kann niemand mehr behaupten, Hitler allein sei der Schuldige gewesen. Die Angeklagten leugnen die Taten oder behaupten, zu ihren Verbrechen gezwungen worden zu sein. Nach 20 Monaten erhalten 6 der 20 übrig gebliebenen Angeklagten eine lebenslange Haft, 11 werden zu Haftstrafen zwischen dreieinviertel und 14 Jahren verurteilt, 3 aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Die Bundesrepublik Deutschland aber hat sich nach diesem Prozess grundlegend verändert.

KLAUS HILLENBRAND

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