Neue Nachbarn

GRASSROOTS Das Netzwerk Polly & Bob will einen modernen Kiezaktivismus ins Leben rufen. Dahinter steckt der Friedrichshainer Volker Siems. Seine Utopien sind Nähe, Entschleunigung und Gegenseitigkeit

VON MORITZ WICHMANN

„Wie wollen wir leben in einer Welt, die immer mehr von der Wirtschaft dominiert wird und in der alle online sind, aber die körperliche Nähe immer weniger da ist?“ Diese Frage, erzählt Volker Siems, stand hinter seiner Motivation, das Nachbarschaftsnetzwerk Polly & Bob zu gründen. Der 40-Jährige ist ein zurückhaltender Typ mit sanfter Stimme und großen Ambitionen. „Die Nachbarn kennenlernen“ und dabei gleich einen neuen Kiezaktivismus begründen – darum geht es ihm.

Bislang beschränken sich die Aktivitäten von Polly & Bob auf Friedrichshain. Anfang November zogen an die tausend Interessierte in einer „Nacht der singenden Balkone“ durch den Stadtteil und lauschten Arien und Liedern, die von den Fassaden herunterschallten. Für Anfang Dezember wurde zu Berlins erstem „Flash-Meal“ geladen – einem Massenfrühstück auf der Oberbaumbrücke – und schließlich bekochten 120 FriedrichshainerInnen einander mit mehreren Gängen, aufgeteilt in 60 wechselnde Teams.

Auch Siems selbst hat etwas davon: „Ich kenn’ jetzt ein paar mehr Nachbarn aus meinem Haus“, freut er sich. Am heutigen Donnerstag (19.12.) organisiert Polly & Bob nun auch noch eine „Kiez-Weihnacht“ mit Schrottwichteln. In ganz Friedrichshain gibt es dazu „autorisierte Geschenkannahmestellen“ in Läden und Cafés.

Neben diesen Events organisiert die Initiative ein Eltern-Speed-Dating für „gegenseitige Hilfe beim Babysitten“ sowie einen „Book Swap“, bei dem Bücher und Geschichten ausgetauscht werden. Ums „Tauschen und Plauschen“, nämlich die Vermittlung von „Tandem“-Partnern zum Sprachenlernen, geht es beim „Language Cafe“.

Blumen gießen, Schrank aufbauen

Herzstück der Initiative aber soll ein Online-Netzwerk werden. Das erscheint ein wenig paradox, wenn Siems präzisiert: „Wir sind online, aber gegen online.“ Die Plattform, erläutert er, solle nur ein Werkzeug sein. Um Gruppen zur Organisation einer Hausgemeinschaft zu bilden, um gegenseitige Alltagshilfe zu organisieren („Blumen gießen, Schrank aufbauen“) und um durch gemeinsame Ressourcennutzung der „Teilwirtschaft zum Durchbruch verhelfen“, wie es auf der Homepage heißt. Deswegen setzt sich der Polly & Bob-Gründer gerade mit „Wire-Frames“ und „Screens“, mit Entwicklern und Programmierern auseinander.

Irgendwann hatte Volker Siems, der früher als Unternehmensberater arbeitete und zuletzt Projektmanager für ein international agierendes Schweizer Unternehmen war, genug. Genug davon, in sechs Tagen durch drei Länder jetten zu müssen. Er engagierte sich bei einer Gruppe die ein Regionalgeld einführen wollte, wurde Mitglied der Grünen und dachte kurzzeitig, das sei das Richtige für ihn. „Ich wollte immer was mit Wirtschaft machen“ sagt er, das schon. Zuletzt war er beim Tauschring Friedrichshain. Seinen alten Job hat er vor kurzem an den Nagel gehängt. Bis jetzt mache er ein Großteil der Arbeit alleine, doch langfristig soll die Community das Projekt übernehmen.

Friedrichshain soll dabei nur der Anfang sein: 0,5 Prozent der Bewohner eines jeden Stadtteils will Polly & Bob zu Nachbarschaftsaktivisten machen. Mit dieser „First Crowd“ sei die kritische Masse erreicht, dann trage sich Polly & Bob selbst, sagt Siems. In den meisten Teilen Berlins liegt dieses Ziel in weiter Ferne. Im Stammkiez Friedrichshain hingegen sind schon rund 350 Unterstützer eingetragen – und somit 57 Prozent der Zielmarke erreicht.

Zur „Nacht der singenden Balkone“ sei durchaus ein breiter Bevölkerungsdurchschnitt gekommen, bei anderen Aktionen eher Menschen „in den Dreißigern“, resümiert Siems. Zudem seien 70 Prozent der Unterstützer weiblich: Bei einem Freiwilligentreffen vor kurzem seien drei Männer und elf Frauen gekommen.

„Vielleicht ist Polly & Bob weiblich?“, rätselt Siems. Oder grundsätzlich das Engagement für die Nachbarschaft? Eigentlich will er alle erreichen, auch die älteren Mitbürger, die „nicht im Internet sind“. Mit einer Internetplattform sei das womöglich schwierig, überlegt er laut am Küchentisch seiner unsanierten Wohnung.

Utopien und Anglizismen

Aber wer sind überhaupt Polly & Bob? Die Namensgeber des Projekts gibt es nicht wirklich. Sie leben nur auf der Website, als Fantasiefiguren, die Siems’ nachbarschaftliche Utopie verkörpern: die alleinerziehende Polly und der Amerikaner Bob, die sich im Kiez kennenlernen und ihr Leben entschleunigen, um zu machen, was sie wirklich wollen.

Auffallend viele Anglizismen finden sich auf den Flyern der Initiative, es dominieren Wortschöpfungen wie „Flash-Meal“ und „Running Dinner“ mit „After Event Party“. Die ganze Homepage gibt es auch auf Englisch. Das sei „einfach nötig“ in Friedrichshain, meint Siems. 20.000 Flyer hat er auf deutsch, 5.000 auf englisch drucken lassen.

Gebremst wurde Siems kürzlich von den Bürokraten des Ordnungsamts. Die verboten das unangemeldete Flash-Meal auf der noch am Vorabend. „Vielleicht ein bisschen blauäugig“ sei er gewesen, gibt der Nachbarschaftsaktivist zu, aber davon lässt er sich nicht bremsen.

Polly & Bob bewirbt auch die Gruppe Mieten in Friedrichshain. Ein „großes Thema“ in der Nachbarschaft sei der immer enger werdende Wohnungsmarkt, findet Siems, eine Problematik, die man graswurzeldemokratisch und lösungsorientiert angehen müsse. Nicht ausgeschlossen also, dass die Initiative demnächst politischer wird. Bis jetzt gibt es die Gruppe aber noch gar nicht: Man habe „das noch nicht forciert“.

Also doch nur Wohlfühlaktivismus, gemeinsam kochen und singen?. Das sei ja auch ein politisches Statement, sagt Volker Siems, der im Videoclip zur „Kiez-Christmas“ mit treuen Rehaugen in die Kamera guckt und zu einem besinnlichen Weihnachtsfest einlädt. Der „Antifa-Ton“ jedenfalls sei nicht seiner, Revolution machen ohne Barrikaden will er. Siems sammelt Spenden für den Drachenspielplatz in der Schreinerstraße und verbindet das mit Entfremdungs- und Wachstumskritik. „Neue Bürgerlichkeit“ gepaart mit alternativem Friedrichshainer Lebensstil, „Neue Nachbarschaft“ eben.

Für 2014 hat Siems neben dem Start der Internetplattform im März viele Ideen: Wohnzimmerkonzerte etwa oder einen Tag der Hausflurflohmärkte: „Ich kriege viele Zuschriften mit tollen Ideen.“