Schock war in der kleinsten Hütte

In ihrer Verbindung aus Pop und lokalen Eigenheiten war die Tropicália-Bewegung eine Kulturrevolution für Brasilien. Jetzt widmet sich das Haus der Kulturen der Welt mit einer Ausstellung und Konzertreihe der reichhaltigen Musik- und Kunstszene

VON TOBIAS RAPP

Am vergangenen Wochenende konnte man sie wieder auf den Kreuzberger Straßen beobachten – all die vielen Selbstverwirklichungsdeutschen, die sich als brasilianische Ghettobewohner verkleiden, um sich ihren Anteil Lebensfreude bei der Musik abzuholen, mit der dieses Land wohl bis ans Ende aller Zeiten assoziiert werden wird: Samba.

Das Theater geht aber noch ein paar Wochen weiter. Auch den Verantwortlichen für die verschiedenen Sounddesign-Aspekte der Fußball-WM fällt wenig anderes ein als Samba. Fußball, Verspieltheit, Eleganz? Samba! Sogar Herbert Grönemeyer macht für seinen deutschen Mannschaftssong in Sambarhythmen.

Nun gibt es nichts gegen Samba einzuwenden. Zieht man das ganze Multikulti-Brimborium einmal ab und hört nur dem Schlagen der Trommeln zu, ist es zum Beispiel gar nicht so weit von den Polyrhythmen aufgeklärter House- und Technoproduktionen entfernt. Das Problem ist ein anderes: Das Sambaklischee verstellt den Blick auf die musikalischen Spielarten eines Landes, das es mit seinem Reichtum an großartiger Popmusik leicht mit den USA aufnehmen kann. Und dort gibt es auch nicht nur Soul (auch wenn fast alle Popmusiken mehr oder minder direkte Verbindungen dazu unterhalten).

Dazu gehört die Tropicália-Bewegung der späten Sechzigerjahre, die das Haus der Kulturen der Welt nun in einer umfassenden Ausstellung präsentiert, die vorher schon in Chicago und London lief. Es war ein Versuch, die brasilianische Popmusik vom Kopf auf die Füße zu stellen. Sie war nicht gegen den Samba gerichtet (der damals noch eine recht ungestörte Favela-Existenz fristete), sondern gegen die gleichermaßen konventionellen Vorstellungen der (regierenden) rechten Militärdiktatur und der (opponierenden) Linken, wie authentisch brasilianische populäre Kultur auszusehen habe.

Die Rechte ließ am Ende mit Caetano Veloso und Gilberto Gil die beiden prominentesten Tropicálistas ins Gefängnis werfen und schickte sie anschließend ins Exil. Zwar hat der linke Präsident Lula vor drei Jahren Gil zum Kulturminister gemacht, doch damals hielten die Linken die Vorstellungen der Tropicálistas darüber, was es heißt, brasilianischer Künstler zu sein, für reaktionär und imperialistisch.

Veloso und Gil sind die Anführer einer kleinen Gruppe von Musikern, Künstlern und Künstlerinnen, die Mitte der Sechziger aus der im Norden Brasiliens gelegenen Stadt Salvador de Bahia nach São Paolo aufbricht, um dort die Welt des MPB, der musica popular brasileira, durcheinander zu wirbeln. Diese organisierte sich in riesigen Fernsehwettbewerben, die nach dem Vorbild des Schlagerfestivals von San Remo ins Leben gerufen worden waren – und deren Musik ähnlich schal und langweilig war.

Die Idee der Tropicálistas, wie eine authentisch brasilianische Kunst klingen und auszusehen habe, orientierte sich am „Kannibalistischen Manifest“ des Dichters Oswald de Andrade von 1928. Darin postulierte der Schriftsteller, die brasilianische Kunst müsse ähnlich gefräßig Einflüsse aufnehmen wie das Land Einwanderer.

Natürlich ist dies auch deshalb interessant, weil hier aus einer intellektuellen Drittweltposition heraus ein Problem formuliert wird, dem sich im Zuge der Globalisierung die Kulturproduzenten aller Weltgegenden stellen müssen – das macht Tropicália auch für Europäer und Amerikaner so faszinierend. Wobei ein Phänomen wie der Karneval der Kulturen auch die historischen Grenzen dieses Konzepts deutlich macht: Wenn eine Stadt wie Berlin mit Sambatänzerinnen für sich wirbt, dann ist die gesamte Vorstellung national verortbarer kultureller Identität obsolet geworden.

Doch das Wunderbare an der Tropicália-Bewegung ist, dass sie diese Fragen nicht nur stellte, sondern sie auch ästhetisch zu beantworten versuchte. Das sieht man an den gut zwanzig Cover der Tropicália-Schallplatten in einer Vitrine und in einem langen Dokumentarfilm über die Geschichte von Tropicália.

Fast 40 Jahre sind seitdem vergangen – eine lange Zeit, die die Musik weniger beschadet hat als die Werke der assoziierten bildenden Künstler. Helio Oiticas Installation „Tropicalia“ etwa, die der Bewegung den Namen gab, nachdem Caetano Veloso sie 1968 in einer Galerie in São Paolo gesehen hatte. Sie besteht aus dem Nachbau einer kleinen Slumhüttensiedlung auf Sand, in einer der Hütten läuft ein Fernseher.

Was damals ein neues Brasilienbild zu entwerfen versuchte, in dem Moderne und Archaik keine Widersprüche sind und wo die ästhetischen Errungenschaften der ganzen Welt via Technologie ihren Weg noch in die ärmste Hütte finden, hat seinen Schock- und Erkenntnismoment deutlich abgenutzt. Selbst wenn man heute einen Computer in die immer noch heruntergekommene Hütte stellen und bedenken würde, dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich in keinem Land der Welt ähnlich ausgeprägt sind wie in Brasilien. Nicht, dass Oitica etwas dafür kann, doch bis vor anderthalb Jahren gab es auf der Torstraße in Mitte eine Bar namens Favela, die ähnlich aussah wie seine Installation. Über diese Art des Herstellens von Kontrasten ist die Zeit hinweggegangen, sie taugt nur noch als Hintergrundrauschen fürs Caipirinhatrinken.

Ganz anders die Musik. Vor einigen Monaten ist unter dem Titel „Tropicália – A Brazilian Revolution in Sound“ eine fantastische Compilation erschienen. Die Ideen mögen in der Luft gelegen haben, aber hört man Stücke wie „Panis et Circensis“ von Os Mutantes oder „Domingo No Parque“ von Gilberto Gil an, so klingt hier das reine Glück eines historischen Moments durch, der es erlaubte, Gils und Velosos Bossa-Liebe und Samba-Sensibilität mit Tom Zes Studium der europäischen Avantgardemusik zusammenzuführen. Und all das auf der Basis einer gründlichen Auseinandersetzung mit den späten Beatles sowie ernsthaftem LSD-Konsums.

Wobei all das wahrscheinlich nirgendwohin geführt hätte, wären da nicht Os Mutantes gewesen, das Rocktrio, das seinen elektrischen Beat unter all diese Verspieltheiten legt – und bei denen man auf eine großartige Art und Weise nie weiß, ob das nun Kindergarten oder Kulturrevolution ist, was da aus den Verstärkern geschrammelt wird.

„Tropicália– eine brasilianische Kulturrevolution“, Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Di.–So. 10–22 Uhr, bis 9. Juli 2006. Konzerte unter www.hkw.de