„Ihr könnt sein Leben zu eurem machen“

DOKUMENTATION Auszüge aus Barack Obamas Rede. Mandela sei ein „Gigant der Geschichte“

„Jede Eulogie auf einen Menschen ist schwer: in Worten nicht nur die Daten und Fakten einzufangen, die ein Leben ausmachen, sondern auch das wahre Wesen einer Person – ihr privates Freud und Leid, die stillen Momente und einzigartigen Merkmale, die eines Menschen Seele beleuchten. Wie ungleich schwerer ist dies für einen Giganten der Geschichte, der eine Nation zur Gerechtigkeit geleitet hat und mit ihr Milliarden auf der ganzen Welt. […]

Für das Volk Südafrikas, für diejenigen auf der ganzen Welt, die er inspiriert hat, ist Mandelas Ableben richtigerweise eine Zeit der Trauer, und eine Zeit der Feier eines Heldenlebens.

Aber ich glaube, es sollte auch in jedem von uns eine Zeit der Selbstreflexion anstoßen. Wir müssen uns ehrlich fragen, unabhängig von unserem Stand und unseren Umständen: Wie gut habe ich seine Lehren auf mein eigenes Leben angewandt?

Es ist eine Frage, die ich mir selbst stelle, als Mensch und als Präsident. Wir wissen, dass die Vereinigten Staaten wie Südafrika Jahrhunderte der Rassenunterdrückung überwinden mussten. Wie auch hier forderte dies Opfer – das Opfer unzähliger Menschen, bekannte und unbekannte, bis zur Morgenröte eines neuen Tages.

Michelle und ich sind Nutznießer dieses Kampfes. Aber in Amerika und in Südafrika, und in Ländern auf der ganzen Welt, darf unser Fortschritt nicht verschleiern: Unser Werk ist noch nicht vollbracht. Die Kämpfe, die nach dem Sieg der formalen Gleichheit und des allgemeinen Wahlrechts kommen, sind vielleicht nicht so dramatisch und moralisch eindeutig wie die vorherigen, aber sie sind nicht weniger wichtig. Denn auf der ganzen Welt sehen wir heute immer noch Kinder, die an Hunger und Krankheit leiden. Wir sehen immer noch heruntergekommene Schulen. Wir sehen immer noch Jugendliche ohne Zukunftsaussichten. Auf der ganzen Welt werden heute immer noch Männer und Frauen für ihre politischen Überzeugungen eingesperrt; und sie werden immer noch verfolgt dafür, wie sie aussehen, wie sie beten oder wen sie lieben.

Das geschieht heute!

Auch wir müssen also für Gerechtigkeit eintreten. Auch wir müssen für Frieden eintreten. Zu viele von uns vereinnahmen zufrieden Mandelas Erbe der Rassenversöhnung, aber stemmen sich forsch gegen auch nur mäßige Reformen, die etwas gegen chronische Armut und zunehmende Ungleichheit leisten würden. Zu viele Führer beanspruchen Solidarität mit Mandelas Freiheitskampf, aber tolerieren keinen Dissens in ihrem eigenen Volk. Und zu viele von uns stehen beiseite, gemütlich in Gleichgültigkeit oder Zynismus, wenn unsere Stimmen gehört werden müssten.

Die Fragen, vor denen wir heute stehen – wie man Gleichheit und Gerechtigkeit fördert; wie man Freiheit und Menschenrechte verteidigt; wie man Konflikt und Religionskrieg beendet –, finden keine einfachen Antworten. Aber es gab keine einfachen Antworten für jenes Kind, das im Ersten Weltkrieg geboren wurde. Nelson Mandela erinnert uns: Es erscheint immer unmöglich, solange bis es getan ist. Südafrika zeigt uns, dass dies wahr ist. Südafrika zeigt, dass wir uns ändern können, dass wir uns entscheiden können, in einer Welt zu leben, die nicht von unseren Unterschieden bestimmt ist, sondern von unseren gemeinsamen Hoffnungen. Wir können uns für eine Welt entscheiden, die nicht von Konflikt bestimmt ist, sondern von Frieden und Gerechtigkeit und Chancen.

Nie wieder werden wir jemanden wie Nelson Mandela sehen. Aber lasst mich der Jugend Afrikas, der Jugend auf der ganzen Welt sagen: Auch ihr könnt sein Leben zu eurem machen. Vor dreißig Jahren, noch als Student, hörte ich von Nelson Mandela und den Kämpfen, die in diesem wunderschönen Land stattfanden, und das regte etwas in mir. Es erweckte meine Verantwortung gegenüber anderen und mir und schickte mich auf eine unwahrscheinliche Reise, die mich jetzt hierher gebracht hat.

Und während ich nie mit Mandelas Vorbild gleichziehen werde – er bringt mich dazu, dass ich ein besserer Mensch sein will. Er spricht das Beste in uns an. Wenn dieser große Befreier zur Ruhe gebettet ist; wenn wir in unsere Städte und Dörfer zurückgekehrt sind und unsere Alltagsroutine wieder aufgenommen haben, lasst uns dann nach seiner Stärke suchen. Lasst uns nach seiner Geistesgröße suchen, irgendwo in uns.“

Übersetzung: Dominic Johnson