So nah und so fern

Kaum 300 Meter von der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln entfernt steht die preisgekrönte Franz-Schubert-Grundschule. Was läuft dort anders?

Wer hier zuguckt, bekommt einen Eindruck von der Schwierigkeit, mit Achtjährigen zu verhandeln, die das Reden nicht gewohnt sind

VON JEANNETTE GODDAR

Dass mit Cem* heute etwas nicht stimmt, ist kaum zu übersehen. Während alle anderen über den Schulhof toben, kauert der Junge in der viel zu großen Jacke vor der kleinen Hausmeisterloge. Die Kapuze fast über die Augen gezogen, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Schwer zu sagen, ob es Wut ist oder Trauer, die ihn da so sitzen lassen. Schwer zu sagen, ob es in einem anderen Schulbetrieb überhaupt jemand auffallen würde, dass etwas mit ihm ist.

Hier an der Franz-Schubert-Grundschule in Neukölln fällt es einem auf. Als Wolfgang Höfert um die Ecke kommt, ist er eigentlich auf dem Weg zur ersten von sechzehn Stunden eines Kurses zur Gewaltprävention in der 3 c. In einer Minute soll es losgehen. Der Psychologe hält sofort inne, als er den Jungen sieht. „Hey, Cem, was ist los?“ Es folgt ein kurzes Gespräch, an dessen Ende der Junge sich zu der Lehrerin aufmacht, die ihm vorwirft, den Gong im Klassenraum kaputtgemacht zu haben. Ein großer Schritt für den Kleinen, vielleicht sogar ein entscheidender. Cem ist zwar erst in der fünften Klasse, aber schon auf der vierten Schule – nicht weil seine Eltern je mit ihm umgezogen wären. Sondern weil er schon dreimal der Schule verwiesen wurde.

An der Schubert-Grundschule läuft alles ein bisschen anders. Höfert kümmert sich nicht nur jetzt auf dem Flur um Cem, sondern nimmt sich regelmäßig zwei Stunden in der Woche Zeit für den Jungen. Seine Kollegin Fatma Bektas bemüht sich unterdessen um Kontakt zu den Eltern, die mit ihren zehn Kindern im Norden von Neukölln leben. Das Familienoberhaupt hat sich bisher geweigert, Außenstehende in die Wohnung zu lassen. So gibt es immer noch vieles, was Höfert und Bektas nicht über den Jungen wissen, aber gern wissen würden: Teilt er sich mit weniger als neun Geschwistern ein Zimmer? Hört ihm jemand zu, wenn er nach Hause kommt? Gibt es regelmäßige Mahlzeiten? Und wenn man alle diese Fragen mit Nein beantworten muss: Was kann man tun?

Die Franz-Schubert-Grundschule ist genauso wenig das Paradies wie jede andere in Neukölln. Aber der Verdacht liegt nahe, dass sie eine Menge anders macht als die Rütli-Schule, deren Lehrer jüngst mit einem Brandbrief auf die Unregierbarkeit ihrer Schüler aufmerksam machten und eine bundesweite Debatte entfachten. Dabei liegen zwischen Rütli- und Schubert-Schule liegen keine 300 Meter. Auch die Grundschule an der Weserstraße unterrichtet ausschließlich Kinder, die im ärmsten Kiez Berlins groß werden. Die meisten hier kommen aus Elternhäusern, in denen keiner Arbeit hat und die deutsche Sprache draußen vor der Tür bleibt. 85 Prozent der Schüler, die hier von der ersten bis zur sechsten Klasse unterrichtet werden, sind nichtdeutscher Herkunft. Das heißt, dass pro Klasse im Schnitt nur zwei bis drei Schüler zu Hause Deutsch sprechen.

Dass sich das bemerkbar macht, streitet die Schulleiterin Ulrike Banach nicht ab. Sie sagt aber auch, dass die deutschen Kinder an ihrer Schule nicht viel besser sprechen, wenn sie eingeschult werden. Auch sagt sie, dass das Sozialverhalten vieler dramatisch zu wünschen übrig lässt. Darüber, warum es hier friedlich ist und an der Rütli-Schule nicht, will Ulrike Banach nicht diskutieren.

Auf der Hand liegt das unterschiedliche Alter: Die Grundschüler sind eben nicht in der Pubertät. Zudem verfügen Grundschulen über eine bessere soziale Mischung als Hauptschulen. Dennoch gibt es auch andere Gründe, die sich schon so weit herumgesprochen haben, dass die Schubert-Schule im Jahre 2002 den Präventionspreis der Berliner Landeskommission gegen Gewalt und 2005 den Integrationspreis des Integrationsbeauftragten überreicht bekam.

Vor mehr als zehn Jahren hat sich die Schule Hilfe ins Haus geholt. 1994 öffnete Höfert mit Unterstützung des Nachbarschaftsvereins „elele“ den Schülerclub „Arche“, der Schülern wie Eltern als Anlaufstelle dienen sollte. Die Schüler kamen fix, aber: „An die Eltern kam ich nicht ran“, erinnert sich Höfert. Denn: „Ich bin Deutscher und ein Mann.“ Bald wurde ihm eine türkische Sozialarbeiterin zur Seite gestellt.

Heute sind Wolfgang Höfert und Fatma Bektas ein eingespieltes Team. Von 8.30 bis 15.30 Uhr steht der Club „Arche“ – ein lichter Raum mit Getränketheke, Gruppentischen, Spielzeug und jeder Menge selbst gemalten Bildern – Schülern und Eltern offen. Außerdem haben sie sich einen Raum zur Streitschlichtung und einen Unterrichtsraum im Keller erkämpft. In Letzterem führen die beiden einen Kurs in Gewaltprävention durch: Höfert übernimmt die Jungen, Bektas die Mädchen. Wer der Stunde zuguckt, bekommt einen Eindruck von der Schwierigkeit, mit Achtjährigen zu verhandeln, die das Reden nicht gewohnt sind.

Prämiert wurde die Schubert-Grundschule nicht zuletzt wegen ihrer Elternarbeit. Fatma Bektas hat auch heute wieder zwischen einem Schüler, den Eltern und ihrer Lehrerin vermittelt. Hartnäckig hatte sich der Junge geweigert, im Sexualkunde-Unterricht Bilder nackter Frauen anzugucken. Nach Wochen konnte Bektas den Konflikt beenden – zu Gunsten der Schulpflicht: Der Junge kommt zum Biologie-Unterricht, auch wenn der Imam ihm und seinen Eltern etwas anderes geraten hatte. „Häufig eskalieren Situationen, weil die eine Seite die andere nicht kennt und ihr auch gar nicht richtig zuhört“, sagt Bektas. Am schlimmsten sei das für die Kinder: „Sie wissen überhaupt nicht, nach wem sie sich nun richten sollen.“

Einmal im Monat organisiert die Sozialarbeiterin einen Elternabend auf Türkisch, der – allen Klischees zum Trotz – auch gut besucht wird. Zum einen, weil die Eltern die Sprache verstehen, zum anderen vielleicht auch, weil Fatma Bektas jedes einzelne Elternpaar anruft und einlädt.

Wenn auch sie die Eltern nicht erreicht, kann vielleicht Younes Kheir helfen. Der begann vor ein paar Jahren als Vater, sich zu engagieren. Schnell nutzte die Schulleitung die Kompetenzen des gebürtigen Libanesen und bat ihn, in Gesprächen mit den Eltern zu übersetzen. „Es war frappierend zu sehen, wie weit die Vorstellungen der beiden Seiten oft auseinander lagen“, erzählt Kheir.

Was ein grundsätzliches Problem ist, potenziert sich im Norden Neuköllns: „Viele Araber sind Flüchtlinge und leben in der ständigen Angst abgeschoben zu werden“, sagt Kheir, „das ist eine Realität, die häufig präsenter ist als die nächste Mathearbeit.“ Heute hat Kheir eine Stelle an der Schule: Mit einer türkischen Kollegin bietet er „Interkulturelle Moderation“ an. Finanziert wird das Projekt aus Mitteln des Programms „Soziale Stadt“.

Die Schubert-Schule hat es verstanden, die richtigen Geldtöpfe zur richtigen Zeit zu finden. Doch dass Ideen gut und erfolgreich sind, bedeutet in Verwaltungen nicht immer, dass sie auch weiterhin gefördert werden. Im kommenden Jahr sollen die Gelder für das interkulturelle Programm und für den Schülerclub „arche“ gestrichen werden.

* Name geändert