berliner szenen Trauer am Zoo

Die Bahn bleibt

Neben dem Wagenstandanzeiger am Gleis 3 liegen Kränze, irgendwer hat Grablichter aufgestellt. Auf das gläserne Bahnhofsdach plattert der Regen, Samstagabend kurz nach elf Uhr. Es ist eine seltsame Beerdigung, zwischen stillem Protest und Happening: Die Gemeinde trauert um Agnes Bernauer, die Gebrüder Grimm, Hannah Arendt und all die anderen ICEs, die nicht mehr am Zoo halten werden. Fotografen machen Fotos von einem magenkrank aussehenden Mann, der den Abschied als „vorläufig“ erklärt. So steht es auch auf den Schleifen an den Kränzen. Noch gibt es scheinbar Hoffnung, schließlich haben die Westberliner bereits 38 Jahre Abgeschiedenheit im Zeichen der Mauer überstanden. Was ist da schon ein 1.000-jähriger Hauptbahnhof?

In der Wartehalle werden die letzten belegten Brötchen verkauft, die Tomate auf dem Käsebaguette wölbt sich vertrocknet am Rand. Trotzdem will die Frau hinter dem Tresen nicht mit sich handeln lassen – „zwei Euro fünfundfünfzig oder könn’se nich lesen?“ –, darin ist sie ebenso hartnäckig übel gelaunt wie die Bahnhof-Zoo-Nostalgiker oben am Gleis. Unter dem Berliner-Schnauze-Muff merkt man die echte Wut: Wenn ihr Bahnhof sich demnächst nicht mehr von Dinklage oder Schwäbisch Gmünd unterscheidet, werden ihnen nur die Verwirrten bleiben. Zum Beispiel der Langhaarige mit der ramponierten Daunenjacke, der unentwegt im Kreis marschiert und dabei murmelt: „Kommen Sie ja nicht näher, dann hole ich die Polizei, das Recht habe ich.“

Ob er wohl mitkriegt, dass sein Publikum jetzt in Mitte aussteigt? Und wird er nun auch umziehen? So ein paar freundlich Irre wären Mehdorn am neuen Machtpol sehr zu wünschen.

HARALD FRICKE