Barsch ist ein bisschen wütend

Integration durch ehrenamtliche Helfer: Der Verein Mentor e.V. bringt Schülern die Liebe zum Lesen bei. Viele der Kinder stammen aus Einwandererfamilien. Gelesen wird dort eher selten

Durch die Einzelbetreuung entsteht schneller eine persönliche Bindung zwischen Mentor und Schüler

von ELLEN KÖHRER

Vor dem Musikraum der Max-Brauer-Schule hängt ein Buch aus, Titel: „Was soll ich denn lesen? 50 beste Kinderbücher“. Arzu* und Nicole Zöllner gehen an dem Buch vorbei, betreten den Raum und setzen sich auf die Bank am Fenster. Draußen im Innenhof wuchert es grün. Zöllner, 40, packt Schokokekse aus, schenkt Zitronentee in Plastikbecher und legt das Buch „Lippels Traum“ von Paul Maar auf die Bank.

„Was ist denn als Letztes passiert?“ will Zöllner wissen. Die 14-jährige Arzu kniet mit angewinkelten Beinen auf der Bank und fährt mit der Hand durch ihren langen Zopf. „Lippel saß auf der Mauer und die Wächter haben ihn erwischt“, sagt sie vorsichtig, nimmt das Buch und liest nach.

Jeden Donnerstag, kurz nach halb eins, treffen sich die beiden zum gemeinsamen Lesen, eine Stunde lang, seit 14 Monaten. „In Deutsch war ich so schlecht“, sagt Arzu, „letztes Jahr hatte ich eine Vier.“ Ihre Klassenlehrerin hat ihr von Mentor Hamburg e. V. erzählt und ihr einen Zettel mit Informationen mit nach Hause gegeben. Arzu‘s Freundin Sevda*, die schon länger mit einer Mentorin das Lesen übt, hat sie schließlich überzeugt, dass das eine gute Sache ist. Sevda hat sich in Deutsch verbessert. Das hat Arzu zu Hause erzählt und ihre Mutter überzeugt.

Der Buchhändler Otto Stender hat vor drei Jahren „Mentor – Die Leselernhelfer“ in Hannover gegründet. Ehrenamtliche Helfer geben in Zusammenarbeit mit Schulen leseschwachen Kindern zwischen acht und sechzehn Jahren kostenlose Nachhilfe im Lesen. Damit soll die Lese-, Sprach- und Schreibkompetenz der Schüler verbessert werden, denn die meisten der betreuten Kinder stammen aus Einwandererfamilien. Stender möchte die Mentor-Idee in ganz Deutschland verbreiten. In Berlin, Niedersachsen und eben in Hamburg hat sie Nachahmer gefunden.

„Los, komm mit in den Palast, sagt einer barsch“, liest Arzu langsam und monoton weiter und stockt. „Barsch, was ist das?“ fragt sie Nicole Zöllner. „Ein bisschen wütend und kurz angebunden, das ist barsch. Weißt du ungefähr wie?“ antwortet Zöllner und fordert Arzu auf, ein anderes Wort für barsch zu finden. Zur Belohnung gibt‘s einen Schokokeks.

Nächster Programmpunkt: ein Vorlesespiel. Die eine liest eineinhalb Seiten, die andere benotet das Gelesene. Draußen sitzt eine Meise vor dem roten Vogelhäuschen im Schulgarten. Drinnen leuchten Arzu‘s Augen, als Nicole Zöllner liest. Und gibt der Mentorin eine Eins fürs Vorlesen.

Zuhause liest Arzu keiner vor. Die Eltern stammen aus einem Dorf eine Tagesreise mit dem Bus von Istanbul entfernt. Manchmal liest ihr Vater Zeitung oder die ganze Familie schaut Fernsehnachrichten. Als zweitälteste von sechs Geschwistern, in Deutschland geboren, muss Arzu sich um ihre Geschwister kümmern. Die Familiensprache ist türkisch. Nur Arzu und zwei ihrer Brüder sprechen deutsch.

Jetzt ist Arzu dran mit Lesen. Vor Begeisterung liest sie drei statt der ausgemachten eineinhalb Seiten, den Kopf tief übers Buch gebeugt. Dann schaut sie hoch. „Das war jetzt ganz schön viel, was du jetzt gelesen hast“, sagt Nicole Zöllner. „Ich war schlecht, ich hab zu wenig betont“, meint Arzu. Trotzdem bekommt sie von ihrer Mentorin eine Eins Minus. Arzu strahlt. „Das ist ja nicht so schlecht, besser als ne Fünf.“

Zöllner gibt ihr den Tipp, ein bisschen langsamer zu lesen, dann verstehe sie die Bedeutung der Worte auch besser. Im Hintergrund brummt die Schulglocke, doch die beiden lassen sich nicht stören. „Ich hab mich einmal verlesen“, meint Arzu.

Nicole Zöllner, 40, wollte sich ehrenamtlich engagieren und ist bei der Recherche im Internet auf den Mentorenverein gestoßen. Sie ging zu einem Infoabend, hat eine Einführung bekommen. Sie hat mit Arzus Lehrerin und einer Sozialarbeiterin gesprochen, dann hat sie Arzu kennen gelernt. Das war vor 14 Monaten.

Zöllner arbeitet freiberuflich als wissenschaftliche Schreibberaterin für Studenten. Arzu ist die einzige Schülerin, die sie betreut. Das gehört mit zum Konzept des Vereins. Durch die Einzelbetreuung entsteht schneller eine persönliche Bindung zwischen Mentor und Schüler. Was wiederum schneller zu Fortschritten beim Lernen führt.

„Soll ich lesen oder Du?“ fragt Nicole Zöllner ihren Schützling. „Egal“, sagt Arzu und liest. „Guten Tag, können Sie mich bitte mit Herrn Mertenheim verbinden.“ Diesmal liest sie langsamer und flüssiger als beim ersten Mal, das Buch lässig in der rechten Hand. „Du hast lange gelesen, das war gut“ sagt Nicole Zöllner.

Für die wöchentliche Stunde mit ihrem Schützling hat Zöllner keinen Ablauf festgelegt. Letztlich, findet sie, soll man einfach lesen und Spaß an Büchern haben. Wie sie selbst, das möchte sie weitergeben. Sie liest gerade „The End of Faith“ von Sam Harris, ein Buch über Glauben, Religion und Terrorismus. Aber auch gerne buddhistische Bücher.

„Nächstes Mal, nach den Pfingstferien, fangen wir mit den Wilden Kerlen an“, sagt Zöllner. Darauf freut sich Arzu jetzt schon, dann kann sie sich darüber mit ihrer Freundin Sevda austauschen, die das Buch auch gerade liest.

„Ich mag Bücher gerne lesen, wenn einer dabei ist“, sagt Arzu, als die Stunde zu Ende ist.

* Namen geändert