WALLE-WALLE-MÄNTEL IN TIERGARTEN, SOLIDE KUNST IN KREUZBERG, BEPPE GRILLO IN NEUKÖLLN
: Wenn Exilitaliener aufeinandertreffen

VON ENRICO IPPOLITO

Fünf Minuten zu spät am Freitagabend – und schon ging nichts mehr. Das Gespräch zwischen dem Journalisten Jan Kedves und dem Dokumentarfilmer Loic Prigent wollte offenbar halb Berlin nicht verpassen. Dafür sind alle nach Tiergarten gefahren. Potsdamer Straße. Ein paar Häuser weiter vom Erotikshop und Videothek „LSD“ ist die Zweitdependence der Magazinbuchhaltung „Do You Read Me?“. Mode als Thema zieht halt immer in der selbst ernannten Fashionhauptstadt Berlin. Irgendwie muss ja der Minderwertigkeitskomplex gegenüber New York, London, Mailand kompensiert werden. Und exakt so sahen die Gäste auch aus. Schmale Silhouette, Hochwasserhose, bunte Socken, Walle-walle-Mantel. Alles in Schwarz – außer eben den Socken.

Kedves hingegen saß lässig am Tisch. Der ehemalige Chefredakteur der Spex und jetzt Redakteur für das Kunstmagazin Frieze d/e führte durch sein Buch „Talking Fashion“, das eine gesammelte Edition seiner Interviews zum Thema Mode ist. Brav neben ihm saß Prigent. Der Pariser Journalist ist durch seine Arte-Dokumentationen von Modedesignerinnen und -designern kurz vor ihrer Fashionshow berühmt geworden. Hätte also eine interessante Veranstaltung werden können. Hätte. Hören konnte ich allerdings nichts und sehen nur von draußen durch die Glasfront. Drinnen stand eine unnütze weiße Wand im Weg.

Muscheln mit Pommes

Entnervt fuhr ich mit meiner Begleitung nach Kreuzberg, ins richtige, also 36. Erst ins Chez Michel, um Moules et frites (Miesmuscheln und Fritten) zu essen. Dann ins NGBK auf die Oranienstraße zur Vernissage. „Love Aids Riot Sex 1“, eine Ausstellung zu den Themen Kunst, Aids, Aktivismus 1987 bis 1995.

Die Besucher im NGBK waren deutlich entspannter, deutlich schwuler und deutlich lauter – wobei das eine mit dem anderen nichts zu tun hat und ganz sicher nur ein Zufall war. Und die Kunst? Solide. Oft schon gesehen und doch sehenswert. Werke von General Idea, Gran Fury und Nan Goldin. Wobei natürlich die meisten Menschen draußen im Hinterhof standen – mit Bier und Kippe in der Hand.

Mit Bier und Kippe endete auch der Samstagabend. Geburtstagsfeier in Neukölln. Nicht in irgendeiner der coolen Kneipen rund um den Hermannplatz, sondern bei Freunden zu Hause. Und wie es so ist, wenn Italiener, die nicht mehr in Italien leben, aufeinandertreffen, sprechen sie nur noch über eine Sache: Politik. Und immer die gleiche Frage: Wen kann man heute eigentlich noch in Italien wählen? Und immer die gleiche Antwort: niemanden – und wenn, dann ja nur nur die Fünfsternebewegung. Die wollen schließlich noch was bewegen. Drei Stunden später und immer noch im Gespräch hatte ich auf die Frage nach wie vor keine Antwort, habe aber standhaft klargemacht, dass ich niemals den Populisten Beppe Grillo wählen werde. Wie es sich übrigens gehört, bin ich bei der Geburtstagsfeier nicht fünf Minuten, sondern eine Stunde zu spät gekommen. Und vorbei war noch lange nichts.