taz vor zehn Jahren: Vera Gaserow über das Fremde und Kriminalität
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Vielleicht werden sie nun etwas kleinlauter sein. Denn wenn die Bewohner im sächsischen Doberstau heute ernst nähmen, was sie Tage zuvor in Reportermikrofone diktierten, müssten sie mit Transparenten vor ein Haus in ihrer eigenen Mitte ziehen. Nachdem die elfjährige Christina auf grausame Weise getötet worden ist, müssten die Menschen in Doberstau jetzt den Tod eines zweiten Kindes fordern, den des sechzehnjährigen Dorfjungen D. Der Junge hat den Mord gestanden, den die Doberstauer nur einem unbekannten Triebtäter zuschreiben konnten. Lautstark hatten viele Dorfbewohner für den Mörder das Fallbeil gefordert.

Vielleicht ist das Entsetzen vor Ort zu groß, um die Botschaft zu begreifen: Die Gesellschaft tut sich keinen Gefallen damit, Verbrechen und Gewalt als etwas von außen in sie Hineingetragenes zu begreifen. Was von außen kommt, ist oft beängstigend, aber es entzieht sich unserem Verantwortungsbereich. Das ist wohltuend entlastend, wie ein Horrorfilm, der sich ausknipsen läßt. Mit Entsetzen registrieren Medienforscher und Jugendkriminologen, wie Kinder in ihren Spielen immer häufiger brutale Videowelt mit Realität verwechseln – umgekehrt versucht die Erwachsenengesellschaft das Störende innerhalb der eigenen Mitte zum schlechten Fernsehprogramm zu erklären. Wenn es zu gruselig wird, schaut man einfach nicht mehr hin.

So wissen in Doberstau einige jetzt im Nachhinein, dass der sechzehnjährige D. seine Mordtat mehrmals angekündigt habe. Vielleicht haben sie ja auf die Fernbedienung gedrückt, nur die Realität lief weiter. taz, 20. 5. 1996