Das andere Polen

Es war in mehrfacher Hinsicht ein historischer Moment: Im Dezember 1990 löst Lech Wałesa als polnischer Präsident Wojciech Jaruzelski ab. Doch nicht der General mit der auffälligen Brille übergibt im Warschauer Königsschloss die Insignien des höchsten Staatsamts an den neuen Präsidenten, sondern ein älterer Herr mit grauem Schnurrbart: Ryszard Kaczorowski, letzter Präsident der polnischen Exilregierung in London.

Eine Nation mit zwei Präsidenten: Diese sonderbare Doppelbesetzung ist eng mit dem Schicksal Polens im Zweiten Weltkrieg verknüpft. Nach Hitlers Überfall im September 1939 flieht die Staatsführung über Rumänien nach Frankreich. Hier bildet General Władysław Sikorski eine neue Regierung und sammelt die versprengten polnischen Truppen zu einer Exilarmee. Churchill betrachtet Polen als Alliierten. Nach der Kapitulation Frankreichs retten sich die polnische Regierung und ein Teil der Truppen nach Großbritannien. Stalin erkennt die polnische Regierung in London erst im Jahr darauf an – nach dem Angriff der Wehrmacht ist auch die Rote Armee auf jeden Verbündeten angewiesen.

Während die polnischen Truppen beachtliche Erfolge bei der Schlacht um Tobruk und später in Monte Cassino erzielen, koordiniert die Regierung von London aus den Widerstand im „Generalgouvernement“. An den politischen Entscheidungen über die Zukunft ihres Landes werden die Polen jedoch nicht beteiligt. Bereits im November 1943 treffen sich Churchill, Roosevelt und Stalin in Teheran und teilen Europa mit Blick auf die Nachkriegszeit auf. Polen wird dem sowjetischen Einflussgebiet zugeschlagen. Spätestens als die Rote Armee ein halbes Jahr später tatenlos zusieht, wie Wehrmacht und SS den Warschauer Aufstand niederschlagen und die Stadt dem Erdboden gleich machen, ist klar, dass Polen von der Sowjetunion nichts erhoffen kann.

Im Juli 1944 lässt Stalin eine Hand voll polnischer Kommunisten aus Moskau nach Lublin bringen und forciert die Bildung einer kommunistischen Regierung. Der sowjetische Geheimdienst zerschlägt systematisch die polnischen Untergrundorganisationen. Jetzt sind es Churchill und Roosevelt, die tatenlos zusehen. Im Juni 1945 erkennen sie die „Provisorische Regierung der Nationalen Einheit“ an, damit verliert die polnische Regierung in London ihre diplomatische Akkreditierung und wird formal zur „Exilregierung“.

Als die polnischen Truppen im Mai 1945 im Emsland von den Engländern ihre eigene „Besatzungszone“ bekommen, schöpfen die Emigranten in London noch einmal Hoffnung und setzten sogar auf einen polnischen Miniaturstaat inmitten Deutschlands. Der Traum zerschlägt sich schnell. Die polnischen Truppen werden demobilisiert, und die Exilregierung ist in Großbritannien nur noch ein geduldetes Ärgernis. Einfluss hat sie nicht mehr. Immer neue Präsidenten treten unbeirrt ihr Amt an, von ihrer „Basis“ haben sich die politischen Repräsentanten des Exils jedoch weit entfernt: Das polnische Leben in den westlichen Staaten wird von den Veteranenverbänden organisiert.

Erst in den 70er-Jahren gewinnt die Londoner Regierung wieder an Bedeutung. Sie gründet eine Hilfsorganisation für verfolgte Arbeiter und unterstützt später die Opposition in Polen. Ihren heroischsten Beschluss fasste sie allerdings 1990. Nach dem Ende des kommunistischen Regimes löst die Exilregierung sich unter Ryszard Kaczorowski selbst auf – und wird so nach langen Jahren im Abseits der Geschichte doch noch zum Paten der Dritten Republik. MEN