Geisterschiff taucht wieder auf

Die „Clemenceau“, die Vätern und Großvätern den Asbest-Tod brachte, könnte ihren Kindern und Enkeln neue Chancen eröffnen

AUS BREST DOROTHEA HAHN

Fast im Schritttempo. Mit sechs Knoten – elf Stundenkilometern – gleitet der hellgraue Koloss in die weite Bucht hinein. Schiebt sich ganz allmählich vor die dichte Vegetation am Ufer. Und vor die Bunker aus der „Atlantikmauer“, die alle paar Schritt aus dem Grün herausragen. „Willkommen, alter Kahn“, titelt die größte Zeitung von Brest, das Télégramme, an diesem Tag spöttisch.

Zu Füßen des Leuchtturms von Minou und am Strand der Halbinsel Pointe des Espagnols sind Arbeiter versammelt, die in Werften gearbeitet haben. Und Kinder und Kindeskinder von Veteranen, die einst an Bord des Kolosses dienten und von denen manche heute an Lungenkrankheiten leiden. Auch zu Wasser sind Schaulustige unterwegs. „Das Meer ist keine Müllkippe“, steht auf lindgrünen Fähnchen kleiner Segelboote. „Mor Glaz“ – blaues Meer –, hat ein Umweltverein geflaggt. Immer wieder wird seine Schaluppe von Kommandos der französischen Marine abgedrängt. Die Soldaten mit schwarzen Gesichtsmasken und Kampfuniform stehen in der Mitte ihrer Schlauchboote. Sie dürfen niemanden näher als 300 Meter an die „Clemenceau“ heranlassen. Weisung aus Paris.

Es ist das vorerst letzte Manöver des alten Flugzeugträgers. Der hellgraue Koloss, der an diesem Morgen um 7 Uhr früh unter dem leichten Nieselregen an einem Stahlseil in seinen Heimathafen zurückkommt, hat nie zuvor so viel Aufsehen erregt. Dabei war er noch nie so harmlos wie jetzt: Er ist ausgeschlachtet, menschenleer und nur noch ein Schatten seiner selbst. Was bleibt, sind 22.000 Tonnen Stahl plus eine unbekannte Menge Asbest und andere Schadstoffe. Im Schritttempo ist dieser Schrott 18.000 Kilometer weit geschleppt worden. Einmal Indien und zurück. Umweltorganisationen haben gegen den Giftmüllexport geklagt. Greenpeaceler haben unterwegs ihre Flagge an Bord gehisst. Ägypten hat die Reise durch den Suezkanal erst nach tagelangen Blockaden und dem Kassieren von 1,3 Millionen Euro freigegeben. Und in Indien und Frankreich haben Gerichte zusätzliche Expertisen über die Schadstoffe an Bord in Auftrag gegeben.

Im Februar erklärt der Staatsrat, das oberste Verwaltungsgericht Frankreichs, den Asbestexport für illegal. Stunden später ordnet Präsident Jacques Chirac die Rückkehr des Schiffes an, das vor Indien in Wartestellung dümpelt. Die gescheiterte Entsorgung macht Frankreich zum Gespött der Welt. Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie, die sich lange gegen jeden Rückruf des Asbestschiffes gewehrt und die Entsorgung im indischen Schiffsfriedhof von Alang als „vorbildlich“ beschrieben hat, muss nun nach einer neuen Lösung suchen. Im vergangenen Jahr hatte sie die „Clemenceau“ vor dem Transport nach Indien oberflächlich von Asbest befreien lassen. Danach war der Flugzeugträger tatsächlich das asbestreinste Schiff aus Europa, das je in Richtung Alang gefahren ist. Die Ministerin ging davon aus, dass es eine Reise ohne Rückkehr werden würde.

Was sie unterschätzte, war die Fähigkeit der Umweltverbände, die schon lange nach einer Gelegenheit suchten, um den Skandal der weltweiten Asbesttransfers nach Südostasien an einem konkreten Bespiel anzuprangern. Schließlich haben die meisten Schiffsbauer der Welt jahrzehntelang den feuerfesten Isolierstoff Asbest verwandt, dessen winzige Fasern sich in den Lungen festbeißen und sie zerstören können. Die Umweltschützer wählten die französische „Clemenceau“.

Das 265 Meter lange Schiff war einst der Stolz der französischen Marine. Zusammen mit seinem Zwillingsbruder „Foch“, der heute unter brasilianischer Flagge als „São Paolo“ fährt, machte der Flugzeugträger Frankreich zum Mitglied im exklusiven Club der Großmächte, die die Weltmeere kontrollierten. Fregatten, ein U-Boot, Minensuchboote und Hubschrauber eskortierten die „Clemenceau“ bei jedem ihrer Einsätze. Auf ihrer Brücke standen 40 Kriegsflugzeuge in Reih und Glied. An ihren Seiten waren Kanonen mit großer Reichweite montiert. Allzeit bereit, französische Interessen weltweit zu verteidigen: vom Algerienkrieg über die Atomtests im Pazifik und den „Wüstensturm“ im Irak des Jahres 1991 bis hin zum Jugoslawienkrieg. 1.000 Soldaten machten sich in den 1.200 Räumen an Bord der „Clemenceau“ zu schaffen. Der auf die Soldatenmützen gestickte Schiffsname erinnerte an den „Vater des Sieges“ im Ersten Weltkrieg und bedeutete viel Prestige.

In Brest lebt man mit der Marine. Jede Familie hat jemanden, der die „Clemenceau“ von innen kennt. In den Familien gibt es viele Geschichten, die nichts mit Prestige zu tun haben. Über die Eimer für Soldaten mit empfindlichen Mägen, die alle paar Meter in den Gängen des Flugzeugträgers standen. Und über Matrosen, die heute an einem Atemgerät hängen. Die Brestois wissen auch, dass Frankreich in den nächsten zwanzig Jahren eine Asbestose-Katastrophe bevorsteht. Die Gesundheitsbehörden rechnen mit bis zu 100.000 Toten aus allen Branchen.

Um 9 Uhr an diesem regnerischen Morgen gibt das Abschleppschiff „Sable Cape“, das die „Clemenceau“ in den letzten drei Monaten für 45.000 Euro am Tag am Stahlseil hatte, seine Fracht an die französische Marine zurück. Soldaten klettern an Bord des Flugzeugträgers. Vier Fregatten nehmen den Koloss von vorn und hinten ans Seil. Verschwinden beinahe unter seinem Rumpf. Und drehen ihn im Zeitlupentempo um 180 Grad. Später schleppen sie ihn an den Malbert-Quai, wo er geparkt und analysiert werden soll.

„Schluss mit der Milliardenverschwendung für Kriegsschiffe“, schreit ein Mann, der mit lindgrünem Fähnchen um den zurückgekehrten Koloss in der Bucht von Brest segelt. Nur die Soldaten auf den Schlauchbooten und ein paar Journalisten können ihn hören.

Das Wendemanöver der „Clemenceau“ findet vor schwarz gewordenen U-Boot-Bunkern statt. Sie stammen von den deutschen Besatzern. Bis heute gehören sie zur militärischen Sperrzone im Hafen von Brest. Auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht, auf der Île longue, ist Frankreichs Basis für die moderne Atom-U-Boot-Flotte. Dort wird auch eine neue Generation von Atomraketen entwickelt, die M 51.

Die Stadt Brest und ihr wirtschaftliches Herz, der Hafen und die militärische Sperrzone Arsenal, sind gezeichnet von Kriegen und Umweltkatastrophen. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war Brest von vier Jahren kontinuierlichen Bombardements zerstört. Es gab nur noch wenige Meter intakter Straßenstücke. Die große Bucht lag voller versenkter Kriegsschiffe. Bis in die späten 50er-Jahre war eine Werkstatt damit beschäftigt, ihre Reste zu zerlegen oder zu sprengen. Danach wanderte die Schiffsentsorgung nach Südostasien ab. Auf den Schiffsfriedhöfen in Bangladesh, Indien, Pakistan und China gibt es Arbeiter für 2 Euro am Tag. Unfälle sind häufig. Wer Jahre nach seiner Tätigkeit ohne Mundschutz an Lungenkrebs erkrankt, muss selbst sehen, wie er zurechtkommt.

In Brest können Schiffe heute nur noch „entsorgt“ werden, indem man sie versenkt. „Ozeanisierung“ heißt das Verfahren, bei dem Wracks am Seeboden enden. In den USA wird es häufig praktiziert. Erst diese Woche wieder versenkte die US-Marine einen Flugzeugträger vor der Küste von Florida. In Frankreich ist es die Ausnahme. Doch vor einigen Monaten endete die „Victor“ so. Die Hafenbehörden hatten mit bloßem Auge sichtbare Löcher in ihrem Rumpf festgestellt. Der Reeder ließ sein Schiff und seine Besatzung im Stich. Die Seeleute aus den Philippinen und Pakistan wurden von den örtlichen Gewerkschaften durchgefüttert. Und das Schiff versenkt.

Katastrophen tragen in Brest meist die Namen von Schiffen. Von untergegangenen Öltankern beispielsweise, deren Ladung sich über die bretonischen Küsten ergossen hat: „Torrey Canyon“, (1967), „Amoco Cadiz“ (1978) und „Erika“ (1999). Nach der letzten davon ist die internationale Seefahrtsregelung geändert worden. Bis zum Jahr 2010 müssen nun alle Öltanker mit einfachem Schiffsrumpf verschrottet werden. Jean-Paul Hellequin von der Umweltorganisation „Mor Glaz“ ist überzeugt, dass auch der heimgekehrte Flugzeugträger die Zukunft bestimmen wird. „Es wird ein Après-„Clemenceau“ geben, wie es ein Aprés-„Erika“ gegeben hat“, sagt er. Seine Gruppe schlägt vor, dass künftige Schrottschiffe komplett in Europa entsorgt werden. Am liebsten in Brest, wo die Rüstungsindustrie in den vergangenen Jahren 4.000 Arbeitsplätze gestrichen hat.

Für die Greenpeace-Campaigner sind die Arbeitsplätze in Brest kein Thema. Sie konzentrieren sich auf den Asbest. „Wir sind in fast allen Punkten bestätigt worden“, sagt ihr Chef Jannick Jadot. Am Nachmittag, als eine kleine Demonstration von örtlichen Gewerkschaften und Parteien durch Brest zieht, um eine komplette Schiffsentsorgungswerkstatt für ihre Stadt zu verlangen, ist er längst abgereist.

Am Abend trifft Yvette Cadiou ihre Freundinnen in dem hoch über dem Hafen von Brest gelegenen Cours Dajot. Ihre Blicke gehen hinab auf den Quai Malbert, an dem die „Clem“ angelegt hat. „Niemand hier hat gewünscht, dass sie zurückkommt“, sagt die alte Dame, „aber wo sie nun einmal hier ist, sollten wir das Beste daraus machen.“ Die verrentete Kindergärtnerin hatte einen Vater und einen Bruder,die „im Arsenal“ gearbeitet haben: „Wir können Schiffe bauen. Aber wir können sie auch wieder zerlegen.“ Die „Clemenceau“, die manchen Vätern und Großvätern den Asbest-Tod brachte, könnte ihren Kindern und Enkeln neue Chancen eröffnen.