Brasiliens Mafia geht in die Offensive

Bei der bisher größten Rebellion des organisierten Verbrechens werden mindestens 67 Menschen getötet

LIMA taz ■ Der Kriminalist Wálter Maieróvitch aus São Paulo fühlte sich an Bagdad erinnert. Doch in der irakischen Hauptstadt starben am Wochenende weniger Menschen als in Brasiliens Megametropole. Die bislang größte Offensive des organisierten Verbrechens unter der Regie des „Ersten Hauptstadt-Kommandos“ (PCC) forderte von Freitagnachmittag bis gestern Morgen mindestens 67 Tote, vor allem Polizisten, Gefängniswärter und Sicherheitsbeamte. In 80 der 110 Gefängnisse des Bundesstaates kam es zu Aufständen, bei denen 15 Häftlinge starben und über 300 Geiseln genommen wurden. Allein in der Nacht zum Montag wurden im Großraum São Paulo 61 Busse angezündet und 10 Bankfilialen überfallen.

Für die Behörden kam die Offensive nicht aus heiterem Himmel. Vor drei Wochen habe man von Plänen des PCC zum Muttertag Wind bekommen, sagte Gouverneur Cláudio Lembo. Daher wurden am Donnerstag 765 Gefangene ins Landesinnere verlegt, tags darauf kamen acht PCC-Bosse in Sondergewahrsam. Doch wie jedes Jahr erhielten tausende Häftlinge am Freitag drei Tage Freigang, die manch einfaches PCC-Mitglied zur Beteiligung an den Attacken genutzt haben dürfte, so der Kommandant der Militärpolizei. Auf Polizeiwachen, Streifenwagen, Beamte im Dienst oder zu Hause wurden mindestens 115 Anschläge verübt. Etwa 5.000 Kriminelle sollen dem PCC angehören, das einen Großteil des Drogenhandels in São Paulo im Griff hat.

Nährboden für die „Megarebellion“ waren auch der soziale Notstand in Brasilien und speziell die unmenschlichen Verhältnisse in den überbelegten Gefängnissen. 290.000 Brasilianer waren 2003 inhaftiert, im kommenden Jahr könnten es nach Schätzungen des Justizministeriums weit über 400.000 sein.

Die beiden Kandidaten für die Präsidentenwahl im Oktober zeigten sich ratlos. Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva und Geraldo Alckmin schoben sich gegenseitig den schwarzen Peter zu. Die Gewalt sei das Ergebnis mangelnder Bildungsausgaben in den letzten 50 Jahren, sagte Lula und kritisierte die Sparpolitik seines Kontrahenten. „Diese Angriffe sind eine Reaktion auf unsere entschiedene Politik gegen das organisierte Verbrechen“, behauptete Alckmin. Von 2002 bis 2005 sanken die Bundesmittel für den Nationalen Sicherheitsfonds um 28 Prozent. Eine Neuorientierung der Sicherheitspolitik, für die Lula im letzten Wahlkampf geworben hatte, blieb ebenso aus wie eine Bildungsoffensive.GERHARD DILGER