Bedrohliche Mutationen im Eiltempo

Immer mehr Viren schaffen den Wirtswechsel vom Tier zum Menschen. Eine kleine Änderung im Genom reicht dafür manchmal schon aus

Über 1.400 unterschiedliche Erreger – Bakterien, Viren, Parasiten und Pilze – können den Menschen krank machen. Mehr als die Hälfte von ihnen soll sich zunächst bei Tieren entwickelt haben, wobei dieser „animalisch-menschliche Quantensprung“ meistens vor vielen Jahrtausenden stattfand. Zuletzt scheint er jedoch noch einmal einen Boom zu erleben: 38 neue Krankheiten entwickelten sich in den letzten 25 Jahren, und nicht wenige von ihnen wuchsen sich zur Seuche aus. Die bekannteste von ihnen ist zurzeit wohl die Vogelgrippe, ausgelöst durch einen Virus namens H5N1. Doch er ist nicht der Einzige – und auch nicht der Schlimmste von allen.

1994 führte der Hendra-Virus in Australien zu schweren Lungenentzündungen. Fledermäuse hatten den Parasiten zunächst auf Pferde übertragen, und von dort aus ging es dann weiter zum Menschen. Drei Jahre später explodierte in Peru auf einmal die Fleckfieberquote auf 2.500 Erkrankungen pro Monat, 1999 tauchte in Malaysia der Nipah-Virus auf – und raffte in kurzer Zeit 102 Menschen dahin. Solche Epidemien sind keineswegs nur auf ärmliche Gegenden beschränkt. Der Westnilvirus durchquerte zwischen 1999 und 2003 die kompletten USA bis nach Kanada – und infizierte dabei über 10.000 Menschen, von denen fast 300 starben.

Wissenschaftler bezeichnen die neuen Infekte als „emerging diseases“, womit auch gleichzeitig zum Ausdruck kommt, dass man einen dringenden Handlungsbedarf sieht. In Deutschland tummelt sich derzeit ein Virus namens hMPV. Er soll bereits für 12 Prozent aller unteren Atemwegsinfektionen bei Kindern verantwortlich sein. „Die klinischen Symptome der hMPV-Infektion reichen von leichten Infektionen der oberen Atemwege bis hin zu schweren Lungenentzündungen“, erklärt Virologe Professor Klaus Überla von der Ruhr-Universität Bochum.

Solche Symptome findet man natürlich auch bei anderen Erregern, weswegen hMPV mit letzter Sicherheit nur im Labor nachgewiesen werden kann. Der Labortest habe bei schweren Krankheitsverläufen durchaus seinen Sinn, betont Überla, allein schon deswegen, weil er dem kranken Kind eine Behandlung mit Antibiotika ersparen könne, die ja nur bei Bakterien angezeigt ist.

Die Ursachen für das Erstarken der neuen Infekte sind vielfältig. Eine wichtige Rolle spielen das Bevölkerungswachstum und die überfüllten Städte, sowie die Entwicklung der Welt zum globalen Dorf, in dem Menschen und Tiere aus den unterschiedlichsten Regionen miteinander in Kontakt kommen. „Aber auch Mutationen und Rekombinationen im viralen Erbgut lassen neue Erreger entstehen“, wie Virologe Professor Albert Osterhaus vom Erasmus-Krankenhaus in Rotterdam betont. Das heißt: Die Mikroorganismen verstehen sich in besonderem Maße darauf, ihren genetischen Bauplan zu verändern und dadurch neue „Sorten“ auszubilden. Der Kampf gegen die „emerging diseases“ ist alles andere als einfach. Denn zwar ist es prinzipiell möglich, gegen die Erreger jeweils spezifische Impfstoffe zu entwickeln, doch das dauert lange und ist teuer, so dass die Pharmaindustrie in den letzten Jahren zunehmend davon abrückte.

Darüber hinaus dauert es oft zu lange, bis alle Behörden im Kampf gegen die neuen Seuchen an einem Strang ziehen. Beispiel: Sars. Der erste Verdachtsfall wurde im November 2002 aus einer chinesischen Provinz gemeldet, doch es dauerte fast ein halbes Jahr, bis die WHO eine weltweite Warnung aussprach. Dann allerdings konnte die Ausbreitung der Lungenkrankheit verhindert werden. JÖRG ZITTLAU