„Eigentlich halte ich es wie mein Vater, der Landwirt“

Nebenstelle (3): Vom Leben und Schreiben in der norddeutschen Provinz. Der Schriftsteller Henning Ahrens über die deutsche Sehnsucht nach Weltläufigkeit, das langsam wachsende Wohlgefallen an der Kleinstadt und den Abstand zum Literaturbetrieb. Doch die Unterschiede zum Stadtleben verschwinden allmählich

„Es gibt eine Sehnsucht nach Mondänität und Coolness, die in diesem kleindeutsch vereinten Konglomerat unerfüllbar ist“

Wo man bei Cechov in der Hoffnung auf das wirkliche Leben nach Moskau rief, rufen und ziehen deutsche SchriftstellerInnen heutzutage in lemminghafter Einhelligkeit nach Berlin. Hieß es nicht einmal: Die Erneuerung kommt von den Rändern? Für die taz nord schreiben SchriftstellerInnen aus der norddeutschen Provinz, was das Wohnen fernab der Metropolen für ihr Schreiben und Leben bedeutet.

Vor wenigen Jahren zog man in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen Artikel an den Haaren aus dem Sommerloch. Die Autoren, wurde darin behauptet, gingen wieder aufs Land, und eine Deutschlandkarte war abgedruckt, versehen mit einer Hand voll Punkte, die die Wohnorte der Provinzschreiber markierten. Das war zwar amüsant, aber genau wie die Ausrufung der meisten Trends komplett konstruiert, denn eine Fluktuation zwischen Stadt und Land hat es immer gegeben, auch im Falle von Autoren, nur dass in Deutschland die Ansicht verbreitet zu sein scheint, dass diese in der Stadt leben müssten, am Puls der Zeit und ähnlicher Klischees, am besten natürlich in Berlin. Seltsam, dass in den USA oder England weder Kritiker noch Hahn danach krähen, wo man schreibt, und man könnte etliche bekannte Autoren nennen, die dort auf dem Land leben. Diese deutsche Großstadt-Manie dürfte wohl am ehesten damit zu erklären sein, dass es hierzulande eine Sehnsucht nach Weltläufigkeit, Mondänität und Coolness gibt, die in diesem kleindeutsch vereinten Konglomerat aus Fürstentümern und Königreichen unerfüllbar ist, und daher wird verzweifelt auf die Metropole gepocht, ein Pochen, in dem die eigentliche Provinzialität zum Ausdruck kommt. Denn wäre man weltmännisch-gelassen, so wäre diese Sache gar kein Thema.

Was mich betrifft – als Beispiel nur –, so bin ich nicht aufs Land zurückgekehrt, um Gräser zu bewispern, sondern wegen einer familiengünstigen Immobilie, und blieb nach dem Kollaps der Familie in dieser Immobilie sitzen, die sich in dieser nicht eben wohlhabenden Gegend nicht verkaufen ließ. Anfangs haderte ich sehr mit dem Land, zumal ich ein Dorf weiter aufgewachsen bin und eine Rückkehr an jenen Ort, von dem ich einmal in die Welt aufgebrochen war, als Rückschritt empfand. Doch dann kam der Tag, er ließ drei Jahre auf sich warten, an dem ich in die Kleinstadt fuhr und dachte: Alles ist gut.

Auf einmal mochte ich es, dieses Peiner Land, das alles andere als eine Idylle ist: Bis in die achtziger Jahre eine Enklave der Schwerindustrie mit Erzbergwerken, Stahlwerk, Hütte, Smog. Flach, dicht besiedelt, von Straßen zerteilt und von Neubaugebieten verunstaltet. Und ein weiteres Jahr dauerte es, bis ich mich fragte, was mir wichtiger ist: Ein Gang durch Felder und Wiesen oder ein Besuch im Café um die Ecke. Es waren die Wiesen und Felder. Im übrigen würde ich in der Stadt aufgrund meiner Arbeit nicht viel anders leben als hier. Eigentlich, wurde mir neulich bewusst, halte ich es wie mein Vater, der Landwirt, bin selbständig, arbeite gern und fahre fast nie in Urlaub, zumal ich genug unterwegs bin: Meine Söhne leben in Kiel, meine Liebste lebt in Frankfurt, viele Freunde leben im anderthalb Zugstunden entfernten Berlin, und Lesungen verschlagen mich dahin und dorthin. Der Welt komme ich also nicht abhanden.

Einen großen Nachteil hat das Land: Es ist einsam. Wer hier als Autor seinesgleichen, ja auch nur seinesähnlichen sucht, sucht vergeblich, denn auf dem Land fehlt die Art Mensch, wie sie kaninchenhaft zahlreich in Berlin-Mitte herumwuselt. Wer das nicht erträgt, kann hier nicht sein. Doch das Land hat auch einen Vorteil: Man hört im DLF Jonathan Meese anlässlich der Eröffnung seiner Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen schwadronieren und fragt sich, ob ihm jemand diesen aufgesetzten Quatsch abnimmt, denkt, dass sich da einer revoluzzerisch aufpusten muss, weil er immer noch nicht von seiner Mami los ist. Will heißen: Man lässt sich nicht ganz so leicht blenden, weil man Abstand hat, auch zum Kunst- und Literaturbetrieb.

Aber vielleicht hat dieser Abstand gar nichts mit dem Land zu tun, denn letzten Endes geht es immer nur um Individuen und ihre jeweiligen Beweggründe und Lebenslagen. Auch die Erneuerung der Literatur, was immer das sein mag, findet weder auf dem Dorf noch in der Metropole statt, sondern in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten und historischen Phasen, denen sich niemand entziehen kann, auch nicht durch den „Rückzug“ aufs Land. Fragen Sie sich manchmal, warum Ihr Dreijähriger genauso heißt wie zig andere Frischlinge im Kindergarten, obwohl Sie neun Schwangerschaftsmonate einen absolut originellen Namen ausgebrütet haben? Voilà. Was in der Luft liegt, erreicht einen zwangsläufig, egal wo man sich befindet.

Klischees sind zäh, und immer hinkt das Bewusstsein dem Sein hinterher, aber eines steht fest: Das Land ist nicht mehr das Land von einst. Spätestens seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist ein Strukturwandel im Gange, und die Unterschiede zur Stadt schwinden. Es gibt sie kaum noch, die Bauern in den Bilderbüchern, aus denen wir immer noch unseren Kleinsten vorlesen. Stattdessen gibt es Mähdrescher, die mit dem Joystick dirigiert und deren Schneidwerke von Infrarotsensoren gesteuert werden, ganz zu schweigen von den neuen Kommunikationstechnologien. Wenn man etwas für die Natur übrig hat und nicht der Geselligkeit verfallen ist, kann man auf dem Land bestens schreiben – die Hühner sind in Quarantäne, und Welt ist heute überall.

Henning Ahrens