SCHLUMMERLUNZE MIT HUNGRIGEM FRÜHLINGSHERZ

VON ULRIKE STÖHRING

Dem natürlichen Drang, die Schlummerlunzigkeit des Winters abzuschütteln, können auch naturferne Städter nicht widerstehen. Ich finde das sehr verständlich und in Ordnung, aber könnte das alles nicht etwas dezenter vor sich gehen? Sicher, junge schwäbische Menschen, im Häusle aufgewachsen, können nichts über die ausgezeichnete Akustik enger Berliner Hinterhöfe wissen und ahnen sicher nicht einmal, dass ihr Liebesspiel vor Tau und Tag uns alle aus den Träumen ruft wie der Muezzin zum Morgengebet. So hört es sich zumindest an.

Erst wenn sämtliche Nachbarn wach sind, ist die Prozedur vollendet. Wenig später erscheinen die Raucher auf den Balkonen und schreien sich hochwichtige Kommentare zum aktuellen Wetter zu. Schlecht gelaunte, im Winter geborene Kleinkinder, verstärkt durch das Gebalze rolliger Elstern, stimmen alsbald mit ein. Das ginge alles noch, zwänge nicht das grelle Licht des Frühlings die Bevölkerung zu ganztägigen „Herrlich, herrlich“-Kommentaren. Große Gefühle sind gefragt, und von unverbandelten Menschen wird spätestens jetzt die Neuverliebung erwartet.

Bei meinem Bäcker empfängt mich ein Schild: „Unsere Liebe des Monats: Sesambrot“. Ich empfinde große Erleichterung, glücklich vergeben zu sein und mich nicht mit einem Biobrot verloben zu müssen. Andererseits ist die Idee nicht schlecht: „Guten Tag, darf ich vorstellen, das ist Wolfgang, meine Liebe des Monats …“ Und wenn man konsequent alle vier Wochen wechselt, warum soll nicht mal ein Brot dabei sein, oder vielleicht ein Klavier?

In Japan durfte kürzlich ein junger Mann hochoffiziell sein Dakimakura, also ein menschenähnlich bedrucktes Kuschelkissen, heiraten. Das ist einfach großartig. Dieses Ehegesponst gibt nie Widerworte, schnarcht nicht, hat keine doofen Eltern, kostet nichts, will immer oder zumindest nicht nicht … Und so ein Ehekissen mault auch nicht, wenn es irgendwo mit hin oder auch zu Hause bleiben muss. Und wenn man schon durch die Öffentlichkeit ständig emotional angequengelt wird, ist die private Stille umso angenehmer.

Neulich versuchte ich, einen Mitarbeiter der Berliner Volksbank am Telefon sprechen. Es ging ausdrücklich um Konto- und nicht um Herzensangelegenheiten. Statt an einen Volksbankier geriet ich allerdings wie üblich an eine Warteschleife, die moderne Telepest. Nach endlosem Herumgefummel durch Haupt- und Nebenmenüs wurde mir beschieden, für eine persönliche Ansprache müsste ich die Neun drücken. Ich gehorchte. Dramatische, treibende Klaviermusik hob an. Sie gehörte zu einem Titel von Mia, der Text scheint doch recht pikant für die Warteschleife einer Bank: „Mit deiner rauen Engelszunge dringst du in mich ein.“ Der Refrain gab mir den Rest: „Mein hungriges Herz durchfährt ein bittersüßes Schwert / sag nur: wie weit / wie weit / wie weit wirst du geh’n?“

Ich legte auf, denn für die Begegnung mit dem hungrigen Herzen eines Bankberaters war ich einfach noch nicht bereit.